Diagonale
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Diagonale Webnotiz 6/2015

von Andrea Pollach

 

Andrea Pollach arbeitet seit vielen Jahren im Filmbereich, u.a. zuletzt bei der Diagonale in der Filmkopien-Abteilung und bei FC Gloria – Frauen Vernetzung Film als Geschäftsführerin.

Die echte Zeit vor dem Fenster

Der Zug fährt durch die Landschaft, der Blick ist aus dem Fenster gerichtet. Eine Notiz soll es werden, über das Kino, über Filme. Bäume, Flächen, Häuser, Straßen ziehen vorbei, mal gemächlich, dann wieder schnell und verwischt. Das, was ich sehe, ändert sich stetig, ich kann keinen Ausschnitt festhalten. Mit den Bildern im Kino ist es ähnlich, sie sind ebenso flüchtig wie die vorbeiziehenden Szenerien vor dem Zugfenster.
Die Leinwand im Kino ist wie ein Fenster in andere Welten, an denen man für die Dauer eines Films teilhaben kann, für ein paar Minuten oder Stunden. Durch die filmische Zeitraffung gerät die reale Zeit im Kinoraum aus dem Bewusstsein.

Zurück im Zug: Was passiert, wenn die Bahn auf freier Strecke stehen bleibt, wenn sich das Bild vor dem Fenster nicht mehr verändert, keine neue Einstellung auf die vorige folgt? Das reale Vergehen der Zeit scheint im fahrenden Zug durch den in Bewegung gesetzten Blick, ähnlich wie im Kino, in den Hintergrund zu treten, erst im Stillstand drängt sich die Zeitlichkeit auf. Weil es ungewohnt ist. Ein Zug soll uns von einem Ort zum nächsten bringen und nur in Bahnhöfen stehen bleiben, alle zusätzlichen Unterbrechungen sind Irritation, münden wahrscheinlich in das Gefühl, dass die Zeit knapp wird.

Wie verhält es sich im Kino, wenn die Landschaft vor dem Fenster stehen bleibt, die Kamera nur eine Einstellung kennt? Hier kann man sich auf diesen Blick einlassen, man sitzt ohnehin im Sessel und muss nicht pünktlich woanders ankommen.

Auf der Diagonale 2015 gab es zwei Filme, die durch die Leinwand aus dem Fenster schauten, das Außen in einer Einstellung ohne Schnitt beobachten. Die Zeit im Film fällt mit der echten Zeit im Kino zusammen.
In Black Rain White Scars von Lukas Marxt blickt die Kamera aus einem hoch gelegenen Fenster auf eine Stadtlandschaft. Die Kronen imposanter Bäume ragen ins Bild, Wolkenkratzer reihen sich dahinter aneinander, im Hintergrund ahnt man Hügel, vielleicht das Meer. Einige Minuten lang schaut man zu, wie sich das Gezeigte vor einem dunstigen Himmel scheinbar nicht verändert, bis hereinbrechende Wolken ganze Häuser einhüllen und zum Verschwinden bringen, das Licht schlucken, sodass die Farben ausbleichen, auf der Tonspur begleitet von Donner und Sturm. Schließlich entlädt sich ein heftiges Gewitter, das auch schnell wieder weitergezogen ist. Licht und Farben kommen zurück.
Gerade, wenn sich auf der Leinwand kaum etwas verändert, wie in den Minuten vor dem Unwetter, wird man auf die eigene Wahrnehmung zurückgeworfen, das im Moment Sein. Und darauf, dass die Gegenwart ein sich ständig entziehendes Konstrukt ist, das immer das Bild davor und danach in sich trägt. Hat sich nun das Grau des Himmels im Film verändert? Bewegen sich die Äste der Bäume stärker im Wind als noch Momente zuvor?

Während ein Spielfilm etwa noch vorgibt, die Zeit im Griff zu haben, weil er sie im Dienst der Erzählung in Stücke schneidet und damit Momente heraushebt und festhält, wird hier das Fließen der Zeit und die Unmöglichkeit, sie festzuhalten, bewusst gemacht. Wenn man glaubt, man kann die Aufmerksamkeit derart schärfen, um jede kleine Veränderung und somit jede Sekunde aufmerksam verfolgen zu können, verliert man sich in Details, in Gedanken, steht plötzlich neben dem Fluss der Zeit, der Blick sucht wieder neuen Halt.

Das Verstreichen der Zeit in all seiner Leichtigkeit gibt A Window is a Mirror is a Window von Peter Roehsler wider, wenn er aus einem Fenster einem Mädchen auf der Straße dabei zusieht, wie es die Glasscheibe an einem hellen Sommertag als Spiegel benutzt, sich versunken die Haare und die Mütze richtet. Sie setzt sich auf einen Mauervorsprung unter dem Fenster in den Schatten, die Kamera folgt ihr in einer kleinen Bewegung, sieht ihr zu beim scheinbaren Warten. Ein Hund kommt ins Bild, an der Leine, dann Frauenbeine in Sommerschuhen. Gemeinsam gehen die drei weiter, aus dem Bild. Darüber liegt ein fröhliches Lied, spanisch, in einer alten, rauschenden Aufnahme.
Die Musik versetzt diese kleine Alltagsszene und seine Betrachter/innen in eine beschwingte Stimmung, ein kurzer Moment, der in seiner beiläufigen Beobachtung das Besondere eines Augenblicks einfängt und damit einen reichen Assoziationsraum öffnet.

Die so genannte Echtzeit im Kino gibt uns Gelegenheit, hinter dem imaginären Leinwand-Raum andere Gedanken-Räume zu betreten, Parallel-Welten, die sich durch die synchronisierte Zeit eröffnen.

Die Diagonale-Webnotizen wurden von 2010 bis 2015 von der BAWAG P.S.K. unterstützt.

Der Standard ist Medienpartner der Diagonale-Webnotizen.
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