Diagonale
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Festival des österreichischen Films
4.–9. April 2024, Graz

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MENUETT
Spielfilm, AT/DE 2023, Farbe, 71 min., OmeU
Diagonale 2023

Regie: Hans Broich
Buch: Hans Broich (nach einer Vorlage von Louis Paul Boon)
Darsteller:innen: Charlotte Brandhorst, Josefin Fischer, Maximilian Brauer
Kamera: Sarah May Handler
Schnitt: Felix Leitner
Originalton: Lea Sorgo
Sounddesign: Felix Leitner
Kostüm: Helena von Mechow
Produzent:innen: Hans Broich
Produktion: SUPERZOOM Film

 

In der in ein junges Berlin der Gegenwart versetzten Romanadaption hinterfragt Hans Broich mit formalem Einfallsreichtum die Deutungshoheit Einzelner und attackiert die Mechanismen des Patriarchats. Eine Erzählung über einen Ehemann, eine Ehefrau und ein Dienstmädchen, deren sich widersprechende Interpretationen vielzählige Perspektiven und „Wahrheiten“ erzeugen. Ein Film, der den Blick auf die Welt verschiebt.



In seiner formal ausgefeilten Adaption eines der bekanntesten Bücher des flämischen Volks- und Skandalautors Louis Paul Boon hinterfragt Hans Broich nicht nur seinen eigenen Blick auf die Welt – er hinterfragt den von allen Menschen, die glauben, die Wahrheit sei das, was sie sehen und denken. Wie in der Romanvorlage dient der Dreivierteltakt des Menuetts als Ordnungsprinzip eines polyphonen Verlusts jedweder Deutungshoheit. Erzählt wird die Geschichte einer Dreiecksbeziehung zwischen einem in einer Eiskammer arbeitenden, Zeitungsschnipsel sammelnden Ehemann, seiner Kinderkleidung herstellenden Ehefrau und dem zwischen Lolita und Berliner Hipsterin oszillierenden Dienstmädchen, auf das der Mann „hungrig“ geworden ist. Sie alle erzählen dieselbe Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven, wobei die verschiedenen Erzählstimmen als anhaltender Chor der Uneindeutigkeit beständig im Hintergrund mitlaufen, ein wenig wie das lauernde Gewissen, das ahnt, dass man alles auch ganz anders sehen könnte.
Die in ein junges Berlin der Gegenwart versetzten Protagonist*innen treten als quasi machtlose Figuren in sie mitreißenden, divergierenden Gedankenströmen auf. Es nütze nichts, der Film laufe weiter, heißt es einmal, und man spürt, dass mit „Film“ auch das Leben gemeint ist. Doch die Vielstimmigkeit betrifft auch die radikale Sprache des 1955 erschienenen Romans, das Lebenswerk Boons, aus dem Alltag gefischte Bilder des gegenwärtigen Berlin, Nachrichten aus deutschen Zeitungen („Giftschlange biss Besitzer“) und immer wieder auch Rückverweise auf die Filmschaffenden selbst. Das Buch und seine sich widersprechenden Weltsichten werden hier zum künstlerischen Manifest. Der Film adaptiert nicht nur eine Geschichte, sondern einen Blick auf die stets entwischende Wirklichkeit, gleichermaßen brutal und poetisch, entrückt und ganz nah an den Dingen. Wer wen wie sieht, ist nicht nur eine subjektive Frage. Denn ob man etwas als Verbrechen oder als harmlosen Scherz, als unschuldiges Begehren oder als Belästigung empfindet, hängt auch an gesellschaftlichen Ungleichheiten. Wessen Interpretation gehört wird, ist eine politische Frage. Derart lässt sich MENUETT unbedingt auch als Angriff auf das selbstherrliche Patriarchat verstehen. Am Ende aber tritt noch eine weitere Deutungsebene in die Welt des Films, und zwar jene der Zuseher*innen. An ihnen liegt es letztlich, aus dem Strudel jene Stimme zu filtern, die zu ihnen spricht.

(Katalogtext, ph)

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