Diagonale
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Europa
Spielfilm, AT 2023, Farbe, 98 min., OmeU
Diagonale 2024

Regie, Buch: Sudabeh Mortezai
Darsteller:innen: Lilith Stangenberg, Jetnor Gorezi, Steljona Kadillari
Kamera: Klemens Hufnagl
Schnitt: Julia Drack
Originalton: Atanas Tcholakov
Sounddesign: Atanas Tcholakov
Szenenbild: Julia Libiseller
Kostüm: Carola Pizzini
Produzent:innen: Mehrdad Mortezai, Sudabeh Mortezai
Produktion: Fratella Filmproduktion

 

Die Managerin Beate (wunderbar undurchdringlich: Lilith Stangenberg) ist für den multinationalen Konzern „Europa“ in armen Regionen Albaniens unterwegs, um die verbliebenen Bauern zum Verkauf ihres Landes zu überreden. Als diese sich weigern, ihre Existenzgrundlage, Familiengeschichten und Traditionen gegen Geld und eine bessere Zukunft einzutauschen, ändern sich Beates Ton und Vorgehensweise. Die imperialistischen Methoden des modernen Kapitalismus treten in drastischer Deutlichkeit zutage.

Die für den in Infrastruktur, Bildung und Kultur investierenden Konzern „Europa“ abgesandte Managerin Beate Winter (Lilith Stangenberg) ist in Albanien unterwegs, um in einer abgelegenen Region die verbliebenen Bauern zum Verkauf ihres Landes zu überreden. Natürlich zum angepriesenen fairen Preis, teilweise sogar inklusive Umsiedelungsversprechen und mit der Aussicht auf ein Stipendium für die Tochter – denn Geschlechterdiversität und Gleichstellung zählen zu den „Core Values“ des multinationalen Unternehmens. Weil Beate für die Hälfte der Anerkennung doppelt so hart arbeiten muss wie die männlichen Kollegen, propagiert sie Solidarität unter Frauen und versucht, das Vertrauen der Bäuerinnen und Töchter durch gespielte Aufmerksamkeit, Einfühlung und Interesse an den persönlichen Perspektiven sowie der Geschichte und der Zukunft der Familien zu gewinnen.

Beates fragile Physiognomie, ihre leicht kränkliche Blässe und ihre Gefasstheit lassen ihr Auftreten fast harmlos erscheinen. Die kontrollierte Hochsteckfrisur, das schicke Kostüm und griffbereites Desinfektionsmittel markieren aber auch ihre „missionarische“ Rolle und die Machtverhältnisse. Beate spielt das Spiel nach den Regeln des ausbeuterischen Systems mit: Sie ist rational, profitorientiert, manipulativ und gut vorbereitet, um ihrem Gegenüber, egal ob Bauer oder der eigene Vorgesetzte, möglichst immer einen Schritt voraus zu sein.

Für ihren Erfolg muss sie private Opfer bringen – Mann und Sohn begegnen ihr seit Langem nur im Videochat –, und die notwendige emotionale Distanziertheit und Kälte lassen sie inmitten all der Herzlichkeit und traditionellen Geselligkeit der albanischen Bevölkerung, mit der sie nur über einen einheimischen Dolmetscher kommunizieren kann, ziemlich einsam dastehen. Als ihre „netten“ Überzeugungsstrategien nicht greifen und die Bauern sich weigern, ihre Existenzgrundlagen, Familiengeschichten und Traditionen gegen Geld und eine bessere Zukunft einzutauschen, ändern sich Beates Ton und Vorgehensweise. Auch wenn die konkreten Pläne des westlichen Unternehmens undurchsichtig bleiben, treten die imperialistischen Methoden des modernen Kapitalismus in Form von Entrechtung, Vertreibung und Ausbeutung plötzlich in drastischer Deutlichkeit zutage.

Auch in ihrem dritten Spielfilm hat Sudabeh Mortezai einen semidokumentarischen Zugang gewählt und gewährt den Beobachtungen von Menschen, Traditionen und Ritualen, von Landschaften, Häusern und Familienkonstellationen – die bisweilen streng patriarchalisch strukturiert sind – viel Zeit und Raum. Die Zusammenarbeit mit den albanischen Laiendarsteller:innen, die ihre Dialoge improvisieren, brachte für Stangenberg einen ähnlichen unvorhersehbaren Kontrollverlust mit sich wie für die verbissene Geschäftsfrau Beate die Kommunikation mit der Landbevölkerung: Es sind jene Momente, in denen die Bauern Widerstand leisten und sich kurz Hoffnung auf Gerechtigkeit einstellt – bevor ihnen alles genommen wird. (Michelle Koch)

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