Der Lieblingsfilm des Videothekars meiner Jugend war The Mangler. Er handelt von einer Wäschemangel mit Eigenleben, die einmal im Jahr nach dem Blut von Jungfrauen dürstet. Sonst mochte er noch Gesichter des Todes, und den örtlichen Fleischhauer. Einerseits wegen der Leberkässemmeln, andererseits, um ihm dabei zuzuschauen, wie er die Tiere umbringt. (Meine Erinnerung dazu ist, dass mir der Videothekar – oder „Videothekenmann“, wie wir gesagt haben – erzählt hat, man müsse einem Stier mit irgendwas „im Hirn umrühren“, dann wäre er gleich tot und würde nichts spüren …)
Solche Geschichten kannte ich von zuhause nicht. Solche Filme auch nicht.
Man wächst behütet in einer Kleinstadt auf (also nicht nur „man“ oder „ich“, sondern vermutlich viele), wo das örtliche Hallenbad längst einem neugebauten Altersheim weichen musste. Eisstockschießen kann man bekanntlich nur im Winter, und auch den Minigolfplatz gibt es nicht mehr. (Den Minigolfverein schon, der wird aber sowieso eher vom Jour fixe-Besäufnis zusammengehalten, als vom Minigolfspielen.)
Fast notwendigerweise wird man da früher oder später in der örtlichen Videothek angeschwemmt (oder dankenswerterweise von den Eltern abgeladen). Und abgesehen von den interessanten Personen, die man dort trifft (beispielsweise rauchende 13-Jährige, die selbstverständlich hinter der Theke stehen und Videos einsortieren, während der Videothekenmann fluchend daneben sitzt und „Resident Evil“ spielt), gibt es da vor allem eines: Eine unfassbare Anzahl von Videokassetten, die Geschichten von Menschen erzählen, die es nicht so fad im Leben haben, wie man selbst. Und dann versucht man alle anzuschauen, weil man glaubt, es ändert was am eigenen Leben.
„Du kannst dir jeden Film anschauen“, hat mein Vater gesagt, „nur nicht sowas Perverses, wo Leute mit Kettensägen zersägt werden und die ganze Zeit kreischen.“
Selbstverständlich habe ich ab diesem Zeitpunkt genau nach diesem Film gesucht. (Ich war ein folgsames Kind, und habe nie offenkundig gegen meine Eltern rebelliert. Und auch diese Rebellion war ein Geheimnis zwischen mir und dem Videothekenmann.)
Ich habe also unheimlich viele Horrorfilme gesehen, von Invasion of the Blood Farmers bis zu Kosmokiller – Sie fressen alles, immer auf der Suche nach dem „schlimmsten“, „widerlichsten“, „perversesten“. Abgesehen vom fast sportlichen Ehrgeiz waren diese Filme in erster Linie Spaß und Ablenkung, in zweiter habe ich aber auch gelernt, dass Nerds (wie hat man die damals genannt, als es das Wort noch nicht gab?) wie ich (die heimlich mit der Videokamera ihre Nachbarn filmen), Helden von Geschichten sein können, und dass alle anderen früher oder später sowieso sterben. Oder überhaupt Aliens sind. Soweit meine Erkenntnis von damals, jedenfalls.
Rückblickend muss ich sagen, dass das nicht das einzige ist, das ich von diesen Filmen gelernt habe. Ich habe alles (ja, alles das ich weiß halt; heißt ja noch nicht, dass das berauschend viel ist) über den Tod gelernt (von Tomb of Ligeia und Premature Burial) und über Obsession (La frustra e il corpo, Vertigo). Und über andere wichtige Dinge wie Clowns (Killer Klowns from Outer Space) und fleischfressende Mutantenpflanzen (The Freakmaker). Über die Gesellschaft (Society, Invasion of the Body Snatchers), und über den fatalen Wunsch, ein anderes Leben leben zu können (Seconds).
Anderes Leben will ich keines mehr; auch daran ist der Horrorfilm schuld. Kein reiner „Nerdtrost“ also, sondern fast als etwas Aufklärerisches. Darin liegt für mich eine Große Kraft des Horrorkinos.
Meine Kleinstadtvideothek hat mittlerweile ebenfalls das Hallenbadschicksal ereilt. Sie ist geschlossen und in ein „Antiquitätengeschäft“ umgewandelt worden. Dort kann man jetzt kleine Porzellanhunde und Hitlerbilder kaufen. Long Live the Dead Flesh!