| Position | Athina Rachel Tsangari |
MUTIGES UND UNERSCHROCKENES FILMSCHAFFEN
Von Yun-hua Chen
Wie schon der Titel ihres Debütfilms The Slow Business of Going ankündigt, ist das Filmschaffen von Athina Rachel Tsangari eine langsame Angelegenheit. Mit Ausnahme von Chevalier (2015), den sie nur fünf Jahre nach Attenberg (2010) veröffentlichte, bringt Tsangari lediglich alle zehn Jahre einen neuen Spielfilm heraus. Dazwischen geht sie andere kreative Wege und dreht Kurzfilme und Episoden für Fernsehserien wie Borgia oder Upload. Ein enger Bezug zu sorgfältig ausgewählten Projekten sowie Gelassenheit prägen ihr Gesamtwerk. In Attenberg wird Intimität als lang andauernder Lernprozess präsentiert; in The Capsule (2012) erfordert das Frauwerden jede Menge Übung; und in Chevalier und Harvest (2024) bedarf es einer Reise (sowie Brandstiftung), um die wahre Natur von Weggefährt:innen und Nachbar:innen zu erkennen.
Ähnlich der Protagonistin in The Slow Business of Going – einer Frau, die mit einem Schaukelstuhl um die Welt reist – steuern Tsangaris Figuren mit unverhohlener Neugier und kindlicher Wissbegierde durchs Leben. In Attenberg erhält Marina Aufklärung in Sachen Zungenkuss, in Harvest erblickt Walter die Ankunft der Moderne und des Kapitalismus. Während das Ungefiltert-Rohe dieser Charaktere die Entwicklung der menschlichen Natur unter die Lupe nimmt, übt es gleichsam Kritik an ihrer Infantilisierung, die als Resultat von Bevormundung und Mansplaining durch patriarchalische gesellschaftliche Strukturen verstanden werden kann. Mit einer Klarheit, die nicht durch Konventionen getrübt wird, entlarven Tsangaris Erwachsene, die wie „enfants sauvages“ wirken, ungeschminkt das Wesen zwischenmenschlicher Beziehungen. Die surrealen (oder surreal realen) Umgebungen, in denen sie leben, sind Orte von Übergangsriten sowie Wartezimmer, in denen sich die Figuren „bereithalten“: für die Abrechnung mit unpassenden Identitäten, die Konfrontation mit dem Tod eines geliebten Menschen, Bewährungstests in einem Best-of-Wettbewerb oder das Verlassen eines nur vordergründig egalitär angelegten Bauernhofs.

Athina Rachel Tsangari © Stadtkino Filmverleih
In diesen Experimentanordnungen für menschliche Reifungsprozesse ist der Platz begrenzt – in einer abgelegenen Küstenstadt mit verfallender Fabrik ebenso wie auf einem Boot oder inmitten einer durch ihr Inseldasein abgeschotteten Dorfgemeinschaft. Tsangaris Settings verwandeln sich in Kammerspiele ohne Ausgang und spiegeln die innere Zerrissenheit der Figuren wider, die, losgelöst von gesellschaftlichen Verstrickungen, auf ihre emotionalen Urinstinkte reduziert und wie in einem Aquarium beobachtet werden. Ihr scheinbar rätselhaftes Verhalten – sie ziehen rote Hahnenkostüme an und führen skurrile Tänze auf oder lassen ihre Schulterblätter rotieren, als ob sie Flügel hätten – mag zunächst bizarr erscheinen. Tatsächlich verweisen diese Handlungen, die wortlos und ohne Musik vollzogen werden, auf eine verstörende Nähe zwischen Mensch und Tier. Das Animalische wird bei Tsangari zum zentralen Element. Ihre Charaktere spielen Szenen aus Dokumentationen von David Attenborough nach oder imitieren tierische Verhaltensweisen. Gerade diese nichtmenschlichen Aspekte lassen ihr Menschsein umso heller erstrahlen, während durch die Untersuchung ihres nach außen hin sichtbaren Verhaltens das Innere ihrer Psyche freigelegt wird.
Was hier absurd und grotesk erscheint, ist in Wahrheit der Ausdruck von etwas Authentischem. Die für Tsangaris Stil typischen unkonventionellen Lieder und körperlichen Verrenkungen verwandeln sich in Metaphern für zwischenmenschliche Interaktionen, genauer gesagt: für Spiele, Kämpfe und gewaltsame Aushandlungsprozesse. Die Kamera wird zur Zeugin dieser Gewalt und zu einem Aufzeichnungsapparat für ein körperliches wie seelisches Erleben. Indem Tsangari Unbehagen und Unbeholfenheiten erforscht, entlarvt und verspottet sie gesellschaftliche Heuchelei und evoziert die kalte Sinnlichkeit von Körpern und Köpfen, die sich jeder Anpassung entziehen. Dieser Zugang brachte die Filmemacherin oft mit der sogenannten Greek Weird Wave in Verbindung – einem Konzept, das den vielfältigen Nuancen des griechischen Kinos im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts jedoch kaum gerecht zu werden vermag. Was im Falle Tsangaris „schräg“ erscheint, ist eher ein Verzweiflungsschrei und Ausdruck des unüberbrückbaren Konflikts zwischen der Sehnsucht, einen bestimmten Ort zu lieben, und der Unmöglichkeit, ihn lieben zu können. Diese Dissonanz entsteht aus der Erfahrung, in einer Gesellschaft gefangen zu sein, die immer tiefer in Finanzkrisen, Identitätskämpfen und sozialen Unruhen versinkt. Im Laufe der Zeit werden durch strukturelle Korruption und tief verwurzelten Nepotismus hervorgerufene Ungerechtigkeiten zunehmend zur Normalität, sodass politische oder sozioökonomische Veränderungen für das Individuum unmöglich werden. Tsangaris Schauplätze sind zerstört und dennoch bewohnt; auch daher ähneln sie stets „beliebigen“ Räumen. Die Charaktere, die wir hier vorfinden, sind „exzentrisch“, nicht weil sie die Welt missverstehen, sondern weil sie die Realität nur allzu klar erkennen und sich in tiefem Zwiespalt mit ihr befinden.
In Tsangaris jüngstem Spielfilm Harvest geht das Zeichnen einer Landkarte dem Niedergang eines Dorfes voraus. Der Vorgang des Kartografierens, der auf die Nutzbarmachung eines Gebietes abzielt, erhellt noch einmal die Rolle des Erlernens von Sexualität in Attenberg und der Bewusstwerdung über die eigene Weiblichkeit in The Capsule: Dinge so zu benennen und zu kartieren, wie sie wirklich sind, wird zur erbarmungslosen Erkenntnis. Zu einem Wissen, das den bequemen Kokon erschüttert. Und zu einem gefährlichen Akt, den sich eine Künstlerin wie Tsangari mutig und unerschrocken zu eigen macht.