Diagonale
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Festival des österreichischen Films
4.–9. April 2024, Graz

Diagonale Webnotiz 6/2014

von Sebastian Brameshuber

 

Der Filmemacher Sebastian Brameshuber lebt derzeit in Roubaix (FR) und in Wien. Sein jüngster Dokumentarfilm Und in der Mitte, da sind wir, wurde auf der Diagonale 2014 gezeigt. www.sebastianbrameshuber.com www.indermitte-derfilm.com

Die Notiz als Haltung zum Filmemachen

Vor einigen Monaten erreichte mich die Einladung der Diagonale, eine Webnotiz zum Thema „politischer Dokumentarfilm“ zu verfassen. Notizen haben den großen Vorteil, Gedankengänge nicht durchdeklinieren zu müssen, die offene der geschlossenen Form vorziehen zu können. Die Notiz, so scheint mir, ist deshalb auch die passendste Form, wenn ich darüber schreiben soll, wie ich politischen Dokumentarfilm – eigentlich Film im Allgemeinen – denke.

Über politischen Film und insbesondere über politischen Dokumentarfilm zu sprechen bedeutet, über jene zwei Instanzen nachzudenken, die am Ereignis des Filmschauens beteiligt sind: die Macherin des Films, vertreten durch den Film auf der Leinwand/dem Bildschirm und das Publikum. Politisch kann Dokumentarfilm – wie auch jede andere Kunstform – nur dann sein, wenn er ein (sein) Publikum erreicht.

Sich als Filmemacher zu bemühen, modernen, zeitgenössischen Film zu machen bedeutet, das Publikum als jene Instanz zu denken, die den Film, im Prozess des Sehens und darüber hinaus weiterdenkt. Ich sage bewusst nicht: fertig denkt. Im Gegensatz zu diversen Hierarchien, die das Erzählkino (und seine Vorbilder/Vorläufer in Theater und Literatur) etabliert haben, ist ein Film vor allem dann politisch, wenn er versucht, die Anordnung Leinwand/Bildschirm – Zuseher zu demokratisieren und traditionelle Hierarchien weitest möglich einzuebnen.
Diese Hierarchien verstecken sich in der Dramaturgie, in Erzählperspektiven, in formalen Entscheidungen usw. Meistens sind sie dem fiktionalen Erzählkino entlehnt und zielen darauf ab, das Publikum zu selbstvergessenen Konsument/innen zu machen. Im günstigeren Fall handelt es sich um eine harmlose Liebesgeschichte mit Happy End, im weniger günstigen Fall zieht jemand aus um zu beweisen, dass Lichtnahrung eine mögliche Ernährungsform für den Menschen darstelle.

Es gibt dazu ein schönes Bild von Brecht, über welches ich in einem Interview mit Jeanne Balibar und Mathieu Amalric in der letzten Revolver-Ausgabe (Heft 25) gestoßen bin:
Jeanne Balibar: (…) Brecht sagt, bei einer Theatervorführung muss der Zuschauer seinen Hut auf dem Kopf behalten können.
Revolver: Nicht wie in der Kirche.
Jeanne Balibar: Genau. Man soll den Hut nicht vor Coca Cola abnehmen, nicht vor dem amerikanischen Imperialismus, nicht vor dem Fernsehsender TF1. Du behältst ihn auf und siehst den Dingen gerade in die Augen. Und beugst nicht deinen Rücken. Unter dem Hut, so fährt Brecht fort, sind die Gedanken. Man soll also sehen und dabei denken.
Mathieu Amalric: Das mit dem Hut ist nur blöd für die Zuschauer hinter einem.

Dann besser doch ohne Hut.
An dieser Stelle möchte ich wieder auf die Notiz zu sprechen kommen. Denn im Grunde bleiben Dokumentarfilme, die sich nicht einem propagandistischen Zweck verschrieben haben, immer mehr oder weniger geordnete Notizen. Dokumentarfilm ist die Kunst, Notizen zu machen und diese sinnstiftend zu ordnen – unter Wahrung einer offenen Struktur und unter Offenlegung des Notizcharakters.

Politischer Dokumentarfilm ist deswegen zuerst eine Frage der Form und erst dann eine Frage des Inhalts. Jedweder Versuch, mittels Film eine Beweisführung anzutreten, stellt einen Missbrauch des Mediums dar.

Die Wortwahl, welche oft bei dramaturgischen Überlegungen getroffen wird, ist sehr aufschlussreich. Der Film müsse „fließen“, dieses oder jenes Element im Film störe den „Fluss“. Man werde „herausgerissen“, könne nicht in den Film „eintauchen“. Eine Figur im Film oder ein Erzählstrang würden nicht fertig erzählt, man erlebe an einer bestimmten stelle einen „Bruch“ – der grundsätzlich negativ besetzt ist. Politischer (Dokumentar-)Film sucht diese Brüche bewusst, will kein nahtloses Fließen und verneint einer dem fiktionalen Erzählkino entlehnten Dramaturgie. Er lehnt es ab, dramaturgisch totberaten zu werden, zumal vor Drehbeginn, in der Konzeptphase.

Eine Randnotiz: Wenn ich an politischen Dokumentarfilm denke, so denke ich automatisch ans Kino. Ich denke nicht an einen Bildschirm, sondern an eine große Leinwand, nicht an eine einzelne Person vor ihrem Laptop, sondern einen mehr oder weniger vollen Kinosaal. Das hat nichts mit Nostalgie zu tun, denn auch in diesem Fall handelt es sich um eine Frage der Form. Die Inszenierung eines Ereignisses – seine Form ­­– ist entscheidend für seine Wirkung. Für einen Film ins Kino zu gehen anstatt ihn am Laptop anzuschauen, ist wie ins Wahllokal zu gehen, anstatt eine Online-Petition zu unterschreiben. Trotz der unzähligen und großartigen Möglichkeiten, die das Web eröffnet, ist und bleibt das Kino ein unentbehrlicher Ort. Nach dem Screening seines Filmes Tahrir im Gartenbaukino im Rahmen der Viennale 2011 sagte der Filmemacher Stefano Savona, dass die ägyptische Revolution trotz der wichtigen Rolle, welche den sozialen Medien zukam, von Steinen entschieden wurde, die in Richtung der Sicherheitskräfte des Regimes flogen. Tahrir ist ein großartiges Beispiel politischen Dokumentarfilms. Einerseits seine Form betreffend, ein großes Ereignis in starken Bildern zu dokumentieren, von dem großteils nur wackelige Mobiltelefon- oder von internationalen Medien aus sicherer Distanz gedrehte Aufnahmen existieren. Aber auch weil er in erster Linie die Form der Proteste dokumentiert, von denen mir die ritualisierten Sprechchöre besonders in Erinnerung geblieben sind.

Politischer Dokumentarfilm ist keine Handlungsanleitung. Er führt nicht vor, gibt keine Antwort darauf, was zu tun ist. Er zeigt auf, dass es eine Schieflage gibt, dass etwas getan werden sollte. Immanent ist die Frage nach dem Wie. Eine Handlungsanleitung ist nur um den Preis der Entmündigung des Zusehers bei gleichzeitiger anmaßender Überhöhung der Rolle des Filmemachers zu haben. Politischen Dokumentarfilm zu machen heißt, Widersprüche zu ertragen, die Fragilität des filmischen Konstrukts zu akzeptieren bzw. diese Fragilität als seine Stärke zu begreifen. Denn nur sie eröffnet Zwischenräume und macht damit jenen Platz frei, der dem Publikum als aktiv am Verfertigen des Films beteiligte Instanz zusteht. Sofern man es – und es sich selbst – ernst nimmt. „Tyranny is the deliberate removal of nuance“, sagt der Dokumentarfilmer Albert Maysles. Oder, in Anlehnung daran: Tyrannei im Film ist die mit filmischen Mitteln herbeigeführte Selbstvergessenheit des Publikums.

Im Übrigen bin ich der Meinung, ein wöchentlicher Kinobesuch sollte spätestens ab der Volksschule in jedem Lehrplan vorgesehen sein. Doch auch hier gilt, dass Film beziehungsweise Kino von den meisten Bildungsbeauftragten als Ereignis oder Ort der Zerstreuung wahrgenommen werden.

Die Diagonale-Webnotizen wurden von 2010 bis 2015 von der BAWAG P.S.K. unterstützt.

Der Standard ist Medienpartner der Diagonale-Webnotizen.
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