Diagonale
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Festival des österreichischen Films
4.–9. April 2024, Graz

Diagonale Webnotiz 2/2015

von Markus Zöchling

 

Markus Zöchling arbeitet freiberuflich für verschiedene Filmfestivals (darunter die Diagonale) und Filminstitutionen, vornehmlich im Bereich Kinotechnik und Spielbetrieb.

Die schwarze Leinwand

Im dritten Wiener Gemeindebezirk, nicht unweit des ehemaligen Zentralbüros der Internationalen Beleuchtungskommission CIE, die bereits 1931 den XYZ-Farbraum erfunden hat, der Jahrzehnte später bei der Normierung des digitalen Kinofilms eine entscheidende Rolle spielen sollte, befindet sich eine gar fantastische Installation. In einem unscheinbaren Hinterzimmer fristet sie zusammen mit zwei analogen Schneidetischen und allerlei anderem technischen Equipment ein bescheidenes Dasein. Kaum drei Meter breit und etwa anderthalb Meter hoch bedeckt sie über einen hölzernen Keilrahmen gespannt einen Gutteil der Rückwand des kleinen Raums. Wären da nicht ihr Querformat und die zu ihren Füßen stehenden Lautsprecher, könnten wir sie glatt für ein unbeholfenes Zitat des schwarzen Quadrats auf weißem Grund von Malewitsch halten.

Und doch erfüllt ihre Anwesenheit eine beinahe triviale Funktion. Ihre exzentrische Oberfläche verdankt sie hingegen mehr einem pragmatischen Zufall denn effekthascherischem Kalkül: Vor die umständliche Alternative gestellt, jedes Mal den Xenonkolben eines angemieteten Projektors zu tauschen, entschieden sich die örtlichen Techniker, bei Gelegenheit eine Projektionsfläche zu verwenden, die jedenfalls so beschaffen wäre, dass das für die geringe Fläche überschüssige Licht teilweise absorbiert und das projizierte Bild somit nicht zu hell werden würde. Man dachte ursprünglich an ein zum Beispiel 50-prozentiges Grau. Als eine solche Folie im Handel aber nicht verfügbar war, kehrte der Einkäufer kurzerhand mit einer schwarzen Folie zurück. Ein temporärer blinder Fleck des sogenannten freien Markts hatte die bestmögliche Alternative zu einer weißen Leinwand in ihr banges Gegenteil verwandelt.

Ich komme gleich auf den Moment zu sprechen, da die Leinwand ihr erstes Bild zeigte. Zuvor erschien sie, von der Tür zu einem improvisierten Vorführraum betrachtet, wie ein Negativ aus der Theaters-Serie von Hiroshi Sugimoto. Nicht das strahlende Weiß einer Dauerbelichtung, in das buchstäblich alle Einzelbilder eines ganzen oder halben Films eingeschrieben waren, mit dem nur schemenhaft im Dunkel verbliebenen Kinosaal als Rahmen, sondern das helle Zimmer mit dem stummen Schwarz im Zentrum, bereit, alle noch zu projizierenden, zukünftigen Bilder aufzufangen.

Natürlich dürfen wir uns das schwarze Rechteck weder als gähnendes Loch vorstellen, das nichts von dem Blick zurück gibt und jegliche Oberflächenbeschaffenheit verbirgt wie etwa das Vanta-Black, das zur Zeit schwärzeste Schwarz der Welt. Noch als glänzend polierten Black Mirror, der uns vor den Trümmern einer neuen Welt zeigt. Sondern viel weicher, matter, ohne jede Spiegelung, angenehm, sofern das ein Wort ist, das auf eine Kunststofffolie jemals zutreffen kann.

Doch alle Zweifel verflogen, erst recht, als das erste Bild auf ihr erschien. Aahh und Oohh, ein staunendes Raunen ging durch die kleine Gruppe, oder vielmehr das Geräusch, das dem Ausschwingen der Luftsäule eines offen stehen bleibenden Mundes entspricht. Jedenfalls das Gegenteil eines aufbrausenden Jubels, nicht Exhalation, nicht Exklamation, kein Rufzeichen, das Ätsch sagt, ich hab’s ja gewusst, oder bamm, Kinowelt, nimm dies!

Denn es hat ja niemand gewusst.

Wollen wir trotz aller Magie dieses erhabenen Augenblicks bitte bei der Wahrheit bleiben. Das Bildnis war wunderschön, bis dato ungesehen und, als semantisches Pendant, zu unerhört, auch un-er-sehen. Man kann aber gar nicht so jubeln über etwas, das man mit nichts vergleichen kann, weil es zu prächtig ist, um an irgendeiner Erfahrung gemessen zu werden. Und so waren es mit Sicherheit auch viele Fragezeichen, ob es das denn überhaupt geben könne, was man gerade sah, die den Augenblick in einer denkwürdig ungläubigen Schwebe hielten.

Und dann konnte die schwankende Luftsäule die angehäuften Fragezeichen nicht mehr länger stemmen. Kurz noch schien sie zu erstarren, nur um dann, zuerst langsam und bald immer schneller werdend, vollends in sich zu zerbröckeln, all die ratlosen Fragezeichen zerbrachen in kleine Splitter, die niederprasselten wie aufgetürmter Hagel: Wie geht das? Hast du diese unglaublichen Farben gesehen? Was ist die Erklärung für dieses wundersame Phänomen?

Darauf gab Ewald Hering in seiner 1874 ebenfalls in Wien veröffentlichten Lehre vom Lichtsinn eine frühe Andeutung. Die Vierfarbenlehre oder Gegenfarbentheorie entspräche einem natürlichen System des Farbempfindens, für das nicht nur der Sukzessivkontrast der Gegensatzpaare Blau-Gelb und Rot-Grün konstituierend sei sondern genauso auch das Gegensatzpaar Schwarz-Weiß. Und für das Luminanzsystem sei die absolute Weißheit relativ unerheblich, so lange die hellste Mischung aller Farben, die gleichzeitige Stimulierung der Blau-, Grün- und Rotrezeptoren der Stäbchen des (menschlichen) Auges eben als Weiß empfunden wird.

Vielleicht gibt es ja Lebewesen mit einem absoluten Helligkeitsempfinden, so wie es gar nicht so selten Leute gibt, die über ein absolutes Gehör verfügen. Aber auch für sie wären die hellsten Stellen auf der Leinwand – egal als wie dunkel oder hell sie diese subjektiv empfinden würden – wohl immer noch weiß. Versus: Das Schwarz auf einer weißen Leinwand. Hier kann jeder noch so unbedarfte Tropf sofort erkennen, dass es noch dunklere Stellen im Kinosaal gibt, etwa die das Bild umrahmende Kaschierung oder der Raumschatten hinter und unter der Leinwand. Frühere Kinos, die sich noch am Theater orientierten, versuchten auch diese Tatsache hinter einem Vorhang zu verbergen. Später wurden während des Einlasses bunte Lichtkegel auf die Leinwand geworfen, oder in künstlichen Pausen gleich ganze Lasershows, die aber auch keinen interessierten.

Abgesehen von der lange bestehenden technischen Notwendigkeit einer hellen Leinwand erschien die reine, unbefleckte Projektionsfläche als logische Analogie zum weißen Blatt Papier oder zur weißen Staffelei, die mit Inhalten zu bedecken seien. Aber Licht be-deckt eben nicht. Licht ist keine cremefarbene Tinte, es deckt auch nicht. Licht ist keine Druckerweiße. Licht hellt auf, es löscht aus, je mehr man davon dazu gibt, desto weniger Informationsgehalt bleibt.

Daher bietet nur die schwarze Leinwand die beste Grundlage für weißes Licht, so wie ein weißes Blatt Papier die beste Grundlage für Druckerschwärze oder dunkelblaue Tinte bietet. Zugleich und gerade deswegen wird die den Mund offen stehen lassende Magie genährt von jener jahrzehntelang in die Irre geleiteten Erfahrung: Es gibt wenige Dinge, die derart kontraintuitiv sind wie die schwarze Leinwand.

Befreit man sich von diesem Vorurteil, liegt der Vorteil der schwarzen Leinwand gleich in mehreren Punkten. Zunächst: Die Intensität des auf eine dunkle Leinwand projizierten Weiß ist maßlos steigerbar, wenngleich auch nicht immer energieeffizient. Das Dunkel auf einer weißen Leinwand hingegen ist endlich und rapide erreicht, nämlich wenn gar kein Licht mehr auf sie fällt. Aber weniger als gar keines gibt es eben nicht. Im Gegenteil: Jedes andere, auch noch so geringe, nicht zur Projektion gehörende Restlicht im Raum verschmutzt das Dunkel, indem es dieses aufhellt; da kann man bei einer schwarzen Leinwand ein wenig entspannter bleiben.

Es wird wahrscheinlich nicht mehr so lange dauern, bis Projektoren noch lichtstärker sind, das Licht wird kälter werden, als Nebenprodukt entschieden weniger Hitze entwickeln, und damit auch energieeffizienter sein. Dann wird man Filmvorführungen bei gedimmtem Saallicht anschauen können, Open Air Screenings könnten gleich nach Sonnenuntergang und nicht erst nach Einbruch der Dunkelheit beginnen, etc. Der Verlust einer Diskretion? Mag sein, aber auch eine Entschmuddelung.

Auch würde an die aufgeklärte Leerstelle unmittelbar ein neues Geheimnis nachrücken: Das bei maßvoll beleuchtetem Saal auf eine schwarze Leinwand projizierte Bild wirkt eben gar nicht wie projiziert. Bei einem in einem dunklen Raum projizierten Bild dreht man sich doch gerne um und folgt dem tanzenden Lichtstrahl zurück bis zum Projektionsfenster, und ist immer wieder aufs Neue angenehm versichert, wenn die Illusion durchschaut ist. Dieser Effekt fehlt in einem einigermaßen hellen Raum gänzlich. Wäre nicht ein zufälliger Schatten im Bild, käme man nie auf die Idee, das Bild wäre projiziert. Ein Standbild auf einer schwarzen Leinwand ist flüchtig von einem Foto oder gemalten Wandbild kaum zu unterscheiden. Welch wunderbares Trompe-l’Œil, in welch formidablen Farben …

Doch halt! Kann man die schwarze Leinwand in Aktion sehen? Unglücklicherweise: nein. Streng geheim. Noch zu wenig ausgereift. Kein Zutritt für Unbefugte, die Buben sind lieber allein in ihrer Experimentierstube. Sie ist aber eine Option auf die Zukunft, so viel getraue ich mich heute schon zu notieren.

Die Diagonale-Webnotizen wurden von 2010 bis 2015 von der BAWAG P.S.K. unterstützt.

Der Standard ist Medienpartner der Diagonale-Webnotizen.
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