SS-Nr. … (Ein SS-Arzt in Auschwitz)
Dokumentarfilm, AT 1984, Schwarzweiß, 76 min., dOF
Diagonale 2023
Regie, Buch: Bernhard Frankfurter
Darsteller:innen: Hans Wilhelm Münch, Bernhard Frankfurter
Kamera: Wolfgang Lehner
Schnitt: Andrea Christa, Bernhard Frankfurter, Wolfgang Lehner
Originalton: Heinz Leger
Produzent:innen: Michael Pilz
Ein hoch konzentriertes, an zwei Tagen geführtes Gespräch mit Hans Wilhelm Münch, der, wie Josef Mengele, SS-Arzt in leitender Position im Vernichtungslager Auschwitz war. Eine Low-Budget-Produktion, gedreht auf Super8, als brisantes Zeitdokument, mit dem Frankfurter das Publikum adressiert: „Wie sehr in meinem Beitrag der Prozess der Selbstaufdeckung, der Entlarvung, der Präsenz der Psychostrukturen von Täterschaft manifestiert wird, ist Ihrer Wahrnehmung überlassen.“
Ein Kamingespräch der anderen Art. Mit freundlicher Stimme fordert der Regisseur den weißhaarigen Hausherrn auf: „Nehmen Sie Platz, Herr Doktor.“ So wie Bernhard Frankfurter genau darauf achtet, wie er das Interieur platziert – ein runder Spiegel rechts im Bild, der ihn selbst zeigt, ersetzt während des Gesprächs den Gegenschuss –, so präzise spannt er sein Gegenüber in die Inszenierung ein. „Herr Doktor“ ahnt vermutlich nicht, wie intensiv der Filmemacher sich auf den Dreh vorbereitet hat. Nur wir haben ihn vor dieser Szene zu Beginn des Films schon bei Recherchen in einem Konzentrationslager gesehen, beim Studium der Bilder, darunter das Foto der jungen Frau bei der „Selektion“ ungarischer Jüdinnen und Juden an der Rampe von Auschwitz 1944, die unverwandt in die Kamera blickt, das später den Anstoß zu Harun Farockis Bilder der Welt und Inschrift des Krieges geben wird.
Der Herr Doktor, das ist Hans Wilhelm Münch (1911–2001), der von Juni 1943 bis zur Evakuierung im Jänner 1945 Leiter des Hygieneinstitutes der Waffen-SS im Vernichtungslager Auschwitz war und Verfügungsgewalt über Hunderte weibliche und männliche Häftlinge hatte, an denen er, wie sein Kollege Mengele, „medizinische“ Experimente durchführte. Nach Kriegsende wurde er in einem US-Internierungslager als ehemaliger SS-Arzt erkannt und an Polen ausgeliefert. Im Krakauer Auschwitz-Prozess von 1947 sagten mehrere Zeug*innen, darunter jüdische Ärzt*innen, zu seinen Gunsten aus, und er erhielt als einziger von vierzig Angeklagten einen Freispruch. Dieses überraschende Urteil begründete die Legende von Münch als „gutem Menschen von Auschwitz“, der in späteren NS-Prozessen sogar als Sachverständiger auftrat. Bis Ende der 1980er-Jahre praktizierte er als Landarzt in Roßhaupten im Allgäu, wo inmitten einer idyllischen Winterlandschaft auch dieser Film entstand.
Das lauschige Ambiente darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei diesem Gespräch, das sich über zwei Tage erstreckte, mehr um ein Verhör handelt. Frankfurter lässt Münch in seinem „emotionalen Gedächtnis“ kramen, hakt immer wieder nach, interessiert sich nicht nur für Offizielles, die hard facts, sondern auch für Persönliches, den Umgang mit Schuld und Verantwortung. „Auschwitz“, konstatiert der ehemalige SS-Untersturmführer trocken, „konnte in seiner extremen Perfektion nur funktionieren, weil ganz normale Menschen daran beteiligt waren und alles auf bürokratischem Wege ablief. Es bedarf keiner außerordentlichen oder sadistisch veranlagten Menschen, um so ein Vernichtungslager zu organisieren, im Gegenteil, nur mit Durchschnittsbürgern konnte dieser Apparat existieren.“
Manches, was der Herr Doktor im jovial nachdenklichen Plauderton von sich gibt, ist schwer zu ertragen, beispielsweise wenn er den Massenmörder Mengele einen „hochkultivierten Mann“ nennt. Überhaupt ist bezeichnend, dass Münch, sobald er die Organisation von Auschwitz schildert, wieder in die Diktion der damaligen Zeit verfällt. So spricht er von „einer Katastrophe, die fast zum Zusammenbruch führte, als Transporte aus Ungarn nicht verarbeitet werden konnten, weil das Zyklon B ausgegangen ist“. Sicher waren es unfassbare Äußerungen wie diese, die Frankfurter dazu bewogen, vier Jahre später ein weiteres Gespräch mit Münch aufzunehmen, ihn nun aber in einen Dialog mit der Auschwitz-Überlebenden Dagmar Ostermann zu verwickeln.
„Ein Dokument von größer Bedeutung“, meinte Leon Zelman, der selbst ein Jahr in Auschwitz interniert war, anlässlich der Erstausstrahlung des Films, „ein Zeitzeuge von der anderen Seite – das hat es noch nie gegeben.“
(Katalogtext, Brigitte Mayr, Michael Omasta)