Diagonale
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Festival des österreichischen Films
4.–9. April 2024, Graz

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MUTZENBACHER
Dokumentarfilm, AT 2022, Farbe, 101 min., OmeU
Diagonale 2023

Regie: Ruth Beckermann
Buch: Ruth Beckermann, Claus Philipp
Kamera: Johannes Hammel
Schnitt: Dieter Pichler
Originalton: Andreas Hamza
Weitere Credits: Dramaturgie: Bernadette Weigel Regieassistenz: Rebecca Hirneise Produktionsassistenz: Eva Rammesmayer
Produzent:innen: Ruth Beckermann
Produktion: Ruth Beckermann Filmproduktion

 

Auf einer Casting-Couch sitzend folgen Männer den Anweisungen der Regisseurin, Auszüge aus dem umstrittenen Klassiker der erotischen Literatur „Josefine Mutzen-bacher oder Die Geschichte einerWienerischen Dirne“ vorzutragen. In einer ironischen Umkehr der Machtverhältnisse in der Erzählung von Sexualität und einer ambivalenten Gratwanderung über obszöne Themen präsentiert MUTZENBACHER eine ungeniert montierte Schau des Sprechens über männliche Fantasien.

Auf einem ausgeblichenen hellroten Sofa mit goldenem Pflanzenprint nehmen die Männer Platz. Sie alle sind dem Casting-Aufruf für 16- bis 99-Jährige gefolgt, in einem Film über Josefine Mutzenbacher mitzuspielen. Viele von ihnen sind mit der Materie vertraut, kennen „Die Geschichte einer Wienerischen Dirne“, jenen 1906 anonym publizierten Roman, der seither, trotz und aufgrund seiner expliziten Sprache und der pornografischen Darstellung von kindlicher Sexualität, als Klassiker der Erotikliteratur in die Geschichte einging.
„Setzen Sie sich“, begrüßt Ruth Beckermann die Männer und lässt sie Auszüge aus dem Roman vorlesen und nachspielen. Schüchtern, kichernd oder regelrecht selbstbewusst theatralisch stöhnend folgen sie den Anweisungen der Regisseurin aus dem Off. Von den Sexualvorstellungen des Romans provoziert, bisweilen auch stimuliert beziehen die Männer Position dazu und beginnen zu reden: über Sex und Sexualität, Erinnerungen an frühe sexuelle Erfahrungen, Haltungen zu Pornografie, Tabubruch und Missbrauch. Was die einen lustig oder lustvoll finden, ist für andere abstoßend und verwerflich. Der Film lässt sie frei über Männerfantasien parlieren und beobachtet, wie dabei die Rollen von Sprache, Realität und Fiktion ständig neu ausgelotet werden. Moralisch urteilt MUTZENBACHER über keinen der Männer – im Gegenteil, „es geht ja nur um Sexualität, die hat ja jeder“, beschwichtigt Beckermann.
Wird der Roman von 1906 als Wiener Sittenbild der Jahrhundertwende gelesen, so präsentiert auch Beckermanns MUTZENBACHER eine ungeniert montierte Schau männlicher Perspektiven auf Sex im Heute und stellt gleichzeitig eine Umkehr der unter anderem auch durch den Mutzenbacher-Roman tradierten Machtverhältnisse in der Erzählung von Sexualität dar. Ist die sogenannte Casting-Couch allgemein als euphemistisches Synonym für sexuellen Machtmissbrauch in der Filmindustrie bekannt, so ist es nun die Regisseurin, die amüsiert dabei zusieht, wie sich die Männer auf der Couch präsentieren und behaupten. Beckermann ist sich ihrer Machtposition bewusst. Doch wie schon Josefine Mutzenbacher im Schlusswort des Romans will auch Beckermanns MUTZENBACHER keine Rechenschaft ablegen. Auf dem Sofa, dem Ort des Teilens und Sichöffnens, geht es ums Reden. Ob und welche Schlüsse sich aus dem Gesagten ziehen lassen, obliegt dem Gegenüber.
(Katalogtext, mg)

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