Diagonale
Diagonale
Diagonale
Diagonale
Festival des österreichischen Films
4.–9. April 2024, Graz

Archivsuche

Suchen nach:
Jahr:
Titel:
Genre:

2551.01
Innovatives Kino, AT 2020, Farbe+SW, 65 min., kein Dialog
Diagonale 2021

Regie, Schnitt: Norbert Pfaffenbichler
Darsteller:innen: Stefan Erber, David Ionescu u. a.
Kamera: Martin Putz
Musik: Johann Sebastian Bach, Simon Spitzer, Wolfgang Frisch
Szenenbild: Sara Lisa Bals
Weitere Credits: Regieassistenz: Simon Spitzer, Maske: Jutta Harather, Laethizia Werth, Mimi Klein, Eva Schmittner, Produktionsleitung: Bianca Jasmina Rauch
Produzent:innen: Norbert Pfaffenbichler

 

Hundert Jahre nach Chaplins Slapstick-Sozialdrama The Kid verortet Norbert Pfaffenbichler seine freie Adaption des Stummfilms in einer dystopischen Unterwelt, in der die Lumpenproletarier/innen als hässliche Maskengestalten vor sich hin vegetieren. In einer lustvollen Inszenierung des Abjekten erzählt 2551.01 eine Geschichte der Gewalt, die nicht nur die Unterdrückten und Ausgestoßenen, sondern auch das politische Potenzial des Kinos feiert.

Das Falltor in die dystopische Unterwelt, in der Norbert Pfaffenbichlers freie Adaption des Stummfilmklassikers The Kid verortet ist, öffnet sich mit schonungsloser Rasanz. 2551.01 katapultiert unvermittelt in ein brutales, von aggressivem Stroboskopgewitter und martialischem Trash Metall getaktetes Gefecht zwischen weiß uniformierten „Polizei“-Einheiten und vermummten Dissidenten. Inmitten dieser unbarmherzigen Kampfzone taucht es plötzlich auf: das alleingelassene Kind, dem die erste Episode von 2551.01 ihren Titel verdankt. Hundert Jahre nach Chaplins Slapstick-Sozialdrama trägt „The Kid“ einen Jutesack über dem Kopf, sein Beschützer – der Tramp – eine Affenmaske. Unverhüllte menschliche Gesichter sucht man im Habitat des Pfaffenbichler’schen Lumpenproletariats, das die Protagonisten auf der Suche nach einer sicheren Bleibe durchwandern, vergeblich. Die Armen, Kriminellen und Ausgestoßenen tragen das Stigma ihrer Andersartigkeit auf dem Gesicht, vegetieren als hässliche, geplagte, entstellte, versehrte Maskengestalten in der dreckigen Kanalisation und in kalten Kellerlöchern vor sich hin. Von Angst und Terror deformierte Visagen als adäquate Mienen im Angesicht von Gewalt, Folter und Verstümmelung. Die Guten tragen nicht immer Weiß – das hat uns die Kinogeschichte gelehrt. Wer hier unten mit aufgesetztem Lächeln oder in uniformierter Schönheit existiert, wirkt suspekt und gefährlich.
Die starren Horrorfratzen bleiben zur Stummheit verdammt – 2551.01 erzählt nicht über Dialoge. Atmosphären, Gefühle und Affekte vermitteln sich über die Bilder, die Musik und das pointierte Sounddesign. Mit Liebe zum Detail, die auch in den Kostümen, in der Ausstattung und im außerordentlichen Sammelsurium grotesker Masken sichtbar ist, setzt der Filmemacher gemeinsam mit Kameramann Martin Putz in den dunklen, puristischen Settings das Verdrängte, Bedrohliche, unzulässig Ersehnte virtuos ins Licht. Ekel und Aversion evozierende Speisen, misshandelte Körper, sadistische Kinderspiele – in der lustvollen Inszenierung des Abjekten erweist Pfaffenbichler sich nicht nur als Sympathisant der die Leinwand bevölkernden Freaks, Monstrositäten und Scarecrows. Subtile kinematografische Verweise setzend, Attraktionen als reflexive Übungen einstreuend und den Ästhetiken des frühen Kinos ebenso wie modernen Formen huldigend gleicht 2551.01 selbst einem dunklen Kinoraum, in dem wir auf eine Reise durch die Filmgeschichte geschickt werden. In einer grotesken Vereinigung von Horror und Slapstick, Splatter und Sitcom, Exploitation und eingespieltem Gelächter erzählt das Stationendrama eine anziehend-abstoßende Geschichte der Gewalt: des Kinos und – gegenwärtig sowieso – des Lebens.
(Katalogtext, mk)

Consent Management Platform von Real Cookie Banner