Jetzt oder morgen
Dokumentarfilm, AT 2020, Farbe, 89 min., OmeU
Diagonale 2020
Regie: Lisa Weber
Buch: Roland Stöttinger & Lisa Weber
Kamera: Carolina Steinbrecher
Schnitt: Roland Stöttinger
Originalton: Theda Schifferdecker
Sounddesign: Lenja Gathmann
Weitere Credits: Tonmischung: Alexander Koller
Farbkorrektur: Dimitri Aschwanden
Dramaturgische Beratung: Severin Fiala
Produzent:innen: Rudi Takacs, Ulrich Seidl
Produktion: Takacs Filmproduktion
Koproduktion: Ulrich Seidl Filmproduktion
Diagonale’20 – Die Unvollendete. Die Diagonale’20 wurde aufgrund der behördlichen Maßnahmen zur Eindämmung von COVID-19 abgesagt.
Claudia hat ihren Sohn Daniel mit 15 bekommen. Lisa Weber begegnet der Familie, die sich aus den beiden sowie der Mutter und dem Bruder Claudias zusammensetzt, im Wiener Gemeindebau. Einer Arbeit geht keiner der drei Erwachsenen nach, die Tage schleppen sich dahin, die Zukunft verspricht nicht viel. Aus den zum Teil ornamental anmutenden Bildern dringt dennoch eine ganze Menge: große Emotionalität, Ratlosigkeit, Mariah Carey und Whitney Houston.
Als 15-Jährige hat Claudia, die mit ihrer Mutter und ihrem Bruder im Wiener Gemeindebau lebt, Sohn Daniel bekommen. Einer Arbeit geht keiner der drei Erwachsenen nach, die Stunden in der kleinen Wohnung schleppen sich dahin, Bürokratie wird gewohnheitsmäßig auf den nächsten Tag verschoben. Auch als Claudia mit ihrem neuen Freund in eine eigene Wohnung zieht, hebt sich die Stimmung kaum; ein Geburtstagstelefonat kündet von der Misere: „Ja, jetzt bist 21 schon.“ „Ja, beschissen.“ Tränen fließen. So trüb geht es in Lisa Webers Film, der über einen Zeitraum von drei Jahren entstanden ist, nicht immer zu. Höhepunkte sind etwa Momente, in denen Whitney Houstons und Mariah Careys Ballade „When You Believe“ durch die Zimmer rollt, erst langsam, mystisch, dann immer mehr Fahrt aufnehmend, bis sich gefühlt alle in den Armen liegen. Später ist Claudia auch in einer halben Karaoke-Version zu erleben, den Text von YouTube ablesend. Das Bild: Während eine Freundin Claudia die Hand hält, blickt ihre Mutter gerührt und stolz zu ihrer Tochter auf.
Szenen wie Gemälde, die sich durch den gesamten Film ziehen. Sie sind einer Kamera (Carolina Steinbrecher) zu verdanken, die Aufstellungen, Achsen und Körperhaltungen präzis einfängt. Immer wieder zeigt sich das familiäre Gefüge entlang dieser Ornamente: Wenn Daniel bei einem Streit zwischen seinem Vater und seiner Mutter genau die Mitte zwischen beiden markiert und er, als sich die Eltern jeweils in verschiedene Richtungen bewegen, für einen langen Augenblick nicht entscheiden kann, wem er folgen will. Oder wenn Claudias neuer Freund beim Fototermin im Hintergrund versenkt wird. Und wenn sich schließlich beide, Claudia und ihr Freund, auf beinah synchrone Weise zur Seite wiegen – und somit weg von Daniel, als dieser nicht in der Lage scheint, seine Hausaufgaben zu lösen. In Lisa Webers Jetzt oder morgen spricht das Verborgene. Es ist zu Herzlichkeiten mit großer Emphase bereit, genauso wie es Handlungen lähmt, die Progress bedeuten könnten. Sich aufbäumende Kräfte werden von Aufschieberei und Krankheitssymptomen geschluckt: Morgen wird man nach Stellenanzeigen schauen; jetzt geht es nicht.
„There can be miracles when you believe. Though hope is frail, it’s hard to kill“, beginnt der Refrain von „When You Believe“. Gestorben ist hier noch nichts. Aber man bewegt sich auf einem schmalen Grat, und Wunder sind fürs Erste keine in Sicht. Vielleicht zeigt Jetzt oder morgen eine fast unsichtbare Akkumulation von Energien, bevor der nächste Schritt gemacht werden kann – für Claudia wäre das vielleicht ein Hauptschulabschluss.
(Katalogtext, cw)