Vorstadtvarieté – Die Amsel von Lichtental
Spielfilm, AT 1935, Schwarzweiß, 93 min., dOF
Diagonale 2019
Regie: Werner Hochbaum
Buch: Werner Hochbaum, Ernst Neubach
Darsteller:innen: Mathias Wiemann, Luise Ullrich, Oskar Sima, lina Woiwoide, Olly Gebauer, Hans Moser
Kamera: Eduard Hoesch
Schnitt: Ludolf Grisebach
Originalton: Alfred Norkus
Musik: Anton Profes
Produktion: Styria-Film
Das Wiener Mädel, eine literarische
Figur Arthur Schnitzlers, erhielt
vor allem im Kino der Zwischenkriegszeit
zentrale Bedeutung. In
Vorstadtvarieté – Die Amsel von
Lichtental wird die Volkssängerin
Mizzi Ebeseder zum Opfer eines
patriarchalen, militärisch geprägten
Klassensystems und macht dessen
Grausamkeiten sichtbar. In Maskerade
hingegen rettet das Wiener
Mädel Leopoldine Dur selbstlos
ihren Geliebten und verliert all ihr
kritisches Potenzial.
Das süße Wiener Mädel, eine beliebte Frauenfigur
in der Jahrhundertwendeliteratur von Arthur
Schnitzler, erhielt im Erzählkino – vor allem der Zwischenkriegszeit
– zentrale Bedeutung. Sein Status
zwischen sexueller Ausbeutung und romantischer
Liebe ist prekär. Assoziiert mit den Rändern der
Stadt, dem Heurigen und dem Prater, verkörpert das
Wiener Mädel die einfache Frau aus der Vorstadt, in
deren Armen ein höhergestellter Herr sein flüchtiges
Vergnügen findet.
Der deutsche Regisseur Werner Hochbaum
erzählt in Vorstadtvarieté – Die Amsel von Lichtental
von der Volkssängerin Mizzi Ebeseder, die sich zwischen
dem Wunsch nach künstlerischer Entfaltung
und ihrem beengten Status als Frau aus den niederen
Schichten aufreibt. Sie wird zum Opfer eines
patriarchalen, militärisch geprägten Klassensystems
und macht dessen Grausamkeiten sichtbar.
In Willi Forsts Maskerade hingegen hat das Wiener
Mädel sein kritisches Potenzial verloren. Paula
Wessely als Leopoldine Dur verliebt sich in einen
Aristokraten und rettet ihn durch komplizenhaftes
Stillschweigen vor dem Skandal. Das Wiener Mädel
versöhnt gesellschaftliche Differenzen, anstatt sie
aufzubrechen, und wird dadurch Teil einer wienerischen
Sozialfolklore.
Hochbaum hingegen verhandelt in seinem Drama
Vorstadtvarieté – Die Amsel von Lichtental das
Verhältnis der Geschlechter über Klassenschranken
hinweg in aller Härte. Luise Ullrich spielt Mizzi
Ebeseder, die als Volkssängerin im Prater auftritt.
Ein Aristokrat umwirbt Mizzi und stellt Heirat in Aussicht.
Dass es um Sex und nicht um Liebe geht, ist
allen Beteiligten klar. Hochbaum demaskiert die
Süße-Mädel-Folklore und die Jovialität des Wiener
Charmes in ihrer zuckrigen, misogynen Verlogenheit
und will ihnen mit Vorstadtvarieté ein radikales Ende
setzen. In seiner Originalfassung stürzt sich Mizzi
von einer Brücke. Die österreichischen Zensurbehörden
schreiten ein und pappen ein Happy End an den
Schluss. Trotzdem tritt in Hochbaums Lesart das
Wiener Mädel als eine Figur auf, anhand derer sich
rigide Klassenschranken, sexuelle Ausbeutung und
patriarchale Strukturen sichtbar machen lassen. Ein
kritisches Potenzial, das ihr in Willi Forsts Maskerade
gänzlich abhandenkommt:
In Maskerade ist Paula Wessely das Wiener
Mädel. Als Leopoldine Dur, eine junge Frau aus einfachen
Verhältnissen, verdient sie ihren Unterhalt
als Gesellschafterin einer reichen Dame. Zufällig
wird sie in einen Skandal der höheren Kreise verwickelt
und verliebt sich in den Aristokraten und Maler
Heideneck (Adolf Wohlbrück). Als eine Exgeliebte
auf Heideneck schießt, verhindert Leopoldine durch
komplizenhaftes Stillschweigen den Eklat.
Das Wiener Mädel lässt gesellschaftliche Brüche,
Klassen- und Geschlechterunterschiede nicht mehr,
wie noch Mizzi Ebeseder in Vorstadtvarieté, aufklaffen,
sondern sorgt für Versöhnung. Das Schlussbild
von Maskerade fixiert das Wiener Mädel in traditioneller
Rolle als kleinbürgerliche Frau, Mutter und
Krankenschwester.
(Alexandra Seibel)