Una Primavera
Dokumentarfilm, AT/DE/IT 2018, Farbe, 80 min., OmeU
Diagonale 2019

Regie, Kamera, Originalton: Valentina Primavera
Buch: Valentina Primavera, Federico Neri
Darsteller*innen: Fiorella di Gregorio, Alessia Camilletti, Chiara Primavera
Schnitt: Federico Neri
Musik: Macarena Solervicens
Sounddesign: Macarena Solervicens, Azadeh Zandieh
Weitere Credits: Mischung: Azadeh Zandieh
Grading: Daniel Kraus
Produzent*innen: Johannes Schubert
Produktion: Johannes Schubert
Mit einer Handkamera begleitet
Valentina Primavera ihre Mutter
zurück nach Italien. Nach vierzig
Jahren Ehe voll mit Beleidigungen,
Demütigungen und häuslicher
Gewalt will diese dort ihren Mann
endgültig verlassen. In schonungsloser
Ehrlichkeit zeichnet Primavera
ein komplexes Familienporträt. Ein
bemerkenswert mutiges Antreten
gegen das Wegsehen.
Müde und erschöpft liegt Fiorella Primavera im
Wohnzimmer der Tochter auf einer Matratze. Nach
vierzig Jahren Ehe – vierzig Jahren voll mit Beleidigungen,
Demütigungen und häuslicher Gewalt – will
sie ihren Mann, den Vater ihrer Kinder, endgültig verlassen.
Zuflucht findet sie bei ihrer Tochter in Berlin.
Es ist eine überaus persönliche Geschichte, die der
Film fortan erzählt: Valentina Primavera ist die jüngste
der drei erwachsenen Kinder von Fiorella und Bruno.
Mit einer Handkamera reist die Filmemacherin
zurück in ihren Heimatort, um ihre Mutter zu begleiten,
die sich dort in Italien langsam und unsicher in
ein neues Leben vortastet.
Schonungslos ehrlich zeigt Una Primavera
die Begegnung mit dem tief liegenden Schmerz:
Zwischen Terminen bei Gericht und einem aufwühlenden
Aufeinandertreffen mit einem wimmernden
Bruno im Familienhaus erinnert sich Fiorella an frühe
Beschwichtigungen ihrer eigenen Mutter, eine Frau
solle dem Ehemann eben nicht widersprechen. Stück
für Stück entfaltet der Film ein komplexes Familiensystem
mit patriarchalen Strukturen, das weiter in
Betriebstemperatur vor sich hin köchelt: Da ist der
Onkel, der es mit Mussolini halten will und findet,
dass ein Mann doch lieber einen Tag als Löwe denn
hundert Jahre als Schaf leben soll. Da ist der Schwager,
der Bruno für die Geduld bewundert, mit der er
die Abwesenheit der Ehefrau ertragen hat. Und auch
Valentinas älteste Schwester Chiara zeigt nur wenig
Mitgefühl für die Situation der Mutter, die von strafender
Einsamkeit geprägt ist. Einmischen, so scheint
es, will sich niemand, und dennoch wird übergriffig
wieder und wieder zu Ungunsten der Mutter relativiert.
Nur an wenigen Stellen kommentiert Valentina
Primavera die Aufnahmen mit Kindheitserinnerungen
aus dem Off. Beschützend, zuhörend und nachfragend
bleibt sie zumeist ganz nah bei der Mutter,
die durch die emotionale Gemengelage taumelt. Es
ist ein bitteres Vor und Zurück, das die Filmemacherin
mit ihrer Kamera dokumentiert: Zu eingefahren
scheint das Familiengeflecht, in dem perfide Verletzungen,
Schamgefühl und beharrliche Verdrängung
einen Knoten bilden, der sich nicht so recht auflösen
lassen will. In entschiedener Offenheit zeichnet
Valentina Primavera ein eindringliches Familienporträt,
das auch von Strukturen häuslicher Gewalt
erzählt. Den Blick auf die Hilflosigkeit auszuhalten ist
fordernd – und ein bemerkenswert mutiges Antreten
gegen das Wegsehen.
(Katalogtext, jk)