Diagonale
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Festival des österreichischen Films
4.–9. April 2024, Graz

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Pension Boulanka
Spielfilm, DDR 1964, Schwarzweiß, 101 min.
Diagonale 2016

Regie: Helmut Krätzig
Buch: Kurt Bortfeldt, Helmut Krätzig frei nach dem Roman „Künstlerpension Boulanka“ von Fritz Erpenbeck
Darsteller:innen: Bolle, Bärbel (Gina) Braun, Ursula (Else Päschke) Dissel, Werner (Dr. Vollmer) Gorges, Ingolf (Leutnant Lorenz) Grosse, Herwart (Clown Ulf) Herden, Peter (Jan Gruyter) Köfer, Herbert (Colanta) Laszar, Christine (Frau Sievers) Mellies, Otto (Robert) Pelikowsky, Erika (Pensionsinhaberin Boulanka) Pietsch, Harry (Oberleutnant Becker) Schröder, Karin (Alti) Veldre, Erik (Hans Wolter) Weikow, Doris (Lore) Weinheimer, Horst (Hauptmann Brückner) Weiß, Karl-Heinz (Leutnant Brehm)
Kamera: Hans Heinrich
Schnitt: Christel Röhl
Originalton: Horst Mathuschek
Musik: Wolfgang Pietsch
Szenenbild: Heinz Leuendorf, Hans Poppe
Kostüm: Helga Scherff
Weitere Credits: Dramaturgie: Margot Beichler
Produktion: DEFA-Studio für Spielfilme, Gruppe 60

 

DDR-Krimi im Künstlermilieu: Emmi Boulanka (Erika Pelikowsky) ist die liebevolle Wirtin einer Artist/innen- Pension in Ostberlin. Tür an Tür haben hier ein Clown, ein Zauberer, eine Rollschuhtruppe und eine Hundedresseurin Quartier bezogen. Ein Gast jedoch, der charmante Herr Gruyter, hat sich unter seinen Kolleg/innen vom Zirkus mit seinen skrupellosen Machenschaften viele Feinde gemacht, und als er in seinem Zimmer mit einer Schlinge um den Hals tot aufgefunden wird, hat der ermittelnde Kommissar eine Menge von Motiven zur Wahl.

Der Tatort: ein dunkles Zimmer. Der Ermordete: sitzt mit dem Rücken zur Tür zusammengesunken in einem Lehnstuhl. Die „Waffe“: ein um seinen Hals gebundener Strick, der lose herunterhängt. Der Kommissar erfasst auf einen Blick: „Hier stimmt was nicht!“ Wir befinden uns bereits mitten in diesem außergewöhnlichen kleinen Film noir aus der DEFA-Werkstatt, der den Mord an einem Artisten in Rückblenden aufrollt.
Detailgetreu schildert der Kommissar den Verlauf der Ermittlungen. Diese führen uns schnurstracks an den Handlungsort, die Künstlerpension Boulanka nahe der Schönhauser Allee, zu deren leutseliger Vermieterin und zum bunt gemischten Völkchen ihrer Bewohner/innen. Emmi Boulanka (hervorragend dargestellt von Erika Pelikowsky), die liebevolle Wirtin dieser Ostberliner Herberge für Artist/innen, die gerade für eine neue Revue proben, liest ihren oft nicht pflegeleichten Gästen die Wünsche von den Augen ab. Tür an Tür haben hier ein Clown, ein Zauberer, zwei Komiker, eine Hundedresseurin, eine italienische Akrobatenfamilie und eine Rollschuhtruppe Quartier bezogen. Und natürlich der scheinbar charmante Herr Gruyter, der jedoch eine dunkle Vergangenheit hat, die erst durch die kriminalistischen Nachforschungen offengelegt wird, nachdem man ihn erdrosselt aufgefunden hat.
Verdächtig sind alle im Haus, weil jede/r früher oder später in irgendeiner Verbindung zu Jan Gruyter stand: Als ehemaliger Verfolgter des Naziregimes kann der Zauberkünstler Colanta bezeugen, dass Gruyter in Paris 1942 unter anderem Namen als SS-Spitzel in der Artist/innentruppe seiner Eltern gearbeitet und diese auf dem Gewissen hat. Der rätselhafte Clown und Sonderling Herr Ulf hüllt sich in hartnäckiges Schweigen, weil er Gruyters leichtlebige Art nicht leiden kann. Ein Tatmotiv könnte auch die Rollschuhkünstlerin Fräulein Lore haben, die sich umbringen wollte, nachdem Gruyter ihr ein Engagement vermasselt und sie verlassen hat. Ebenso Frau Sievers mit ihren Pudeln und der Wohnung in Bremen, zu deren überlassung Gruyter sie gern überredet hätte. Dies gelang ihm aber nicht, da sie über seine illegalen Machenschaften aus früheren Tagen Bescheid weiß. Auch der nächtliche Anrufer Hans Wolter, der noch eine Rechnung mit dem ehemaligen Kollegen offen hat, käme infrage, oder die durchtriebene „Rothaarige“, die am Abend des Mordes eine lautstarke Auseinandersetzung mit Gruyter hatte.
Ein Fall, dessen Spannung aus dem Geflecht der Figuren erwächst und der allerlei zu bieten hat: Mord, Rauschgiftschmuggel, Mädchenhandel, Betrug bis hin zu Stimmenimitatorkünsten. Auch wenn Profiling noch nicht in Mode ist, hat Kommissar Hauptmann Brückner nicht umsonst den Spitznamen Daktyloskop und wahrhaft gefinkelte Methoden, um die Verdächtigen einzukreisen. Mit ihm und seinem Team arbeitet sich der Film durch mögliche Täter/innen und Kompliz/innen, Mordmotive und Hintergrundrecherche.
Pension Boulanka, eine frühe Arbeit des renommierten Krimiregisseurs Helmut Krätzig (Polizeiruf 110, Tatort), sollte nicht nur die Tradition der DEFA-Krimis neu beleben, sondern auch einen Gegenpol zu den in Westdeutschland so beliebten Edgar-Wallace-Verfilmungen schaffen. Die finstere Mordaffäre wird aufgehellt durch trockenen Humor, der sehr sympathisch berührt. Etwa wenn Emmi Boulanka auf Gruyters lässiges „Schreiben Sie’s auf die Rechnung“ antwortet: „Umsonst ist nur der Tod – und der kostet das Leben.“
(Brigitte Mayr)

In Kooperation mit der DEFA-Stiftung

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