Diagonale
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Festival des österreichischen Films
4.–9. April 2024, Graz

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Alltagsgeschichte - Am Stammtisch. Ein Heimatfilm von Elizabeth T. Spira
Spielfilm, AT 1988, Farbe, 59 min.
Diagonale 2016

Regie: Elizabeth T. Spira
Kamera: Wilhelm Lindenberger
Schnitt: Inge Wistawel
Originalton: Rolf Leitenbohr
Weitere Credits: Produktionsleitung: Fridolin Pig, Redaktion: Peter Rabl
Produktion: ORF

 

In der einzigen nie ausgestrahlten „Alltagsgeschichte“-Episode von 1988 lauscht Elizabeth T. Spira den Gesprächen an Stammtischen der Republik, um schließlich den faschistoiden Sud aus Antisemitismus, Geschichtsverleugnung und erschreckendem Selbstbewusstsein in rauchgeschwängerter Atmosphäre zum Kochen zu bringen.

Zum Auftakt der Filmmuseum-Reihe: zwei Filme, in denen vor allem gesprochen wird und in denen die „gesagten Dinge“ (Michel Foucault) ein Archiv bilden, das mehr ist als nur ein Protokoll von Aussagen. Alltagsgeschichte – Am Stammtisch und Vienna is Different: 50 Years after the Anschluss kreisen um zwei historische Momente, die die nahtlose Kontinuität von Geschichte und Gegenwart auf fast unheimliche Weise verdichten – die Präsidentschaft Kurt Waldheims und der fünfzigste Jahrestag des „Anschlusses“ an Nazideutschland. Zwei Filme, in denen Österreich als (selten, aber gelegentlich doch auch kritische) Öffentlichkeit zu Wort kommt – durch die im Staatsgebilde lebenden Individuen, publizierenden Medien, agierenden Institutionen. Aus der Gegenwart heraus formieren sich diese Bilder zu einem brüchigen und facettenreichen Gesellschaftspanorama, einer Kakofonie gesagter Dinge zu einem bestimmten Thema, in einer bestimmten Zeit, an einem bestimmten Ort.
Einige dieser gesagten (aber damals nicht gehörten) Dinge finden sich im ORF-Archiv in der einzigen nie ausgestrahlten Folge von Elizabeth T. Spiras Alltagsgeschichten mit dem Titel Am Stammtisch. Sie versammelt Wirtshauszusammenkünfte in Wien, der Steiermark, Tirol und Kärnten. Schon lange bevor die Gesprächspartner/innen an Pfeifen-, Jäger-, Schützen- oder Arbeiterstammtischen ihre Gedanken direkt um Waldheim kreisen lassen, beschreiben fast alle gesagten Dinge einen gedanklichen Orbit, in dessen Zentrum Waldheim steht: Tradition, Jugoslawien-Urlaub, „unsere Heimat“ (und „Zurück in die Heimat!“), die junge Generation, die Waffen, die Disziplin und die Türkenkriege. Ungeschönt spielt Spira das Thema zunächst über die Bande, um schließlich den faschistoiden Sud aus Antisemitismus, Geschichtsverleugnung und erschreckendem Selbstbewusstsein in rauchgeschwängerter Atmosphäre zum Kochen zu bringen.
Örtlich und geistig nicht ganz so eng gefasst kommt Österreich 1988 ebenso in Vienna is Different: 50 Years after the Anschluss zum Sprechen. Auch hier wird nichts Neues mitgeteilt – zu Wort kommen u. a. beleidigte Holocaust-Leugner/innen im Trachtenlook, bürgerliche Relativist/innen und Augenzeug/innen der sogenannten „Reibpartien“. Wirklich erhellend ist aber, wie und wo gesprochen wird: Fläzend auf luxuriösen Möbeln unter einem Waldheim-Bild mit persönlicher Danksagung lassen sich die idealistischen Forderungen der „jungen Leut’“ leichter abtun als vor spartanischen Archivregalen mit Geschichtsdokumenten. Im Theater werden die Dinge überzeichnet, beim abendlichen Joint und Wein unter Kreativen hält man zynische Distanz, während der ORF die harte Gangart der ausländischen Presse gegenüber Österreich tadelt. Susan Kordas und David Leitners Film versammelt all das im öffentlichen Raum Gesagte (inklusive der vom Waldheim-Thema durchdrungenen Wiener Werbeflächen) und überträgt es in einen anderen, nicht weniger öffentlichen Raum – in das Kino, wo die Vergangenheit nie ganz vergeht. Was 1988 durch welche Kanäle, in welchen Tonalitäten, begleitet von welchen Gesten und Grimassen, gekleidet in welche Räume und Gewänder gesprochen wurde, gehört auch 2016 noch zum Differenzial von Wien.
(Alejandro Bachmann)

In Kooperation mit dem ORF-Archiv

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