Lovely Rita
Spielfilm, AT/DE 2001, Farbe, 79 min.
Diagonale 2018
Regie, Buch: Jessica Hausner
Darsteller:innen: Barbara Osika, Christoph Bauer, Peter Fiala, Wolfgang Kostal, Karina Brandlmayer
Kamera: Martin Gschlacht
Schnitt: Karin Hartusch
Originalton: Thomas Schmidt-Gentner
Produktion: coop99 filmproduktion
Koproduktion: Prisma Film- und Fernsehproduktion
Essential Film
Aus der Sicht von Teenagern stellt
sich Provinz in besonderer Weise
als langweiliger, rückständiger
Lebensraum dar, der zu eng, zu klein,
zu unmodern ist und überwunden
werden muss. Veränderung ist: eine brennende Schwimmhalle, die Action
verspricht, Rausch und Hormone,
die es ermöglichen, die Provinz
auszublenden, oder der Ausbruch
aus jenen Strukturen, die man als
provinziell betrachtet.
Einer der wenigen von einem Jugendlichen gedrehten
Amateurfilme in der Sammlung des Österreichischen
Filmmuseums gibt fragmentarische
Einblicke in den provinziellen Teenageralltag in Norwegen:
Statt in Bars trifft man sich im Keller zum
Trinken und Kartenspielen, spät nachts liest man
situationistische Philosophen auf dem Bett, und alle
sind dankbar, wenn einmal wirklich was passiert:
Hurra, die Schwimmhalle brennt!
In Florian Pochlatkos Erdbeerland ist der Schauplatz
nicht weiter benannt, gezeichnet wird eher ein
paradigmatisches Teenagerleben auf dem Land
aus der Perspektive eines Buben: Das Leben findet
hier unter dem Radar der Eltern statt, zum Kiffen
fährt man mit dem Moped in das nahe gelegene
Waldstück samt leer stehender Ruine, und alle
popkulturellen Konsumgüter schreien nach großer,
weiter Welt: nach dem dystopisch-modernen Tokio
aus der Akira-Saga, dem toughen Straßenleben
Chicagos, dem Lärm des Death Metal. Für einen
Film, der wie wenige andere in den letzten Jahren
wirklich nah an den Lebenswelten junger Menschen
dran ist, dessen Kamera sich fast schon anfühlt
wie die Verlängerung dieser überenergetisierten,
hormongesteuerten Körper, ist es nur konsequent,
nicht zu zeigen, was keine Relevanz hat: Die Provinz
selbst wird hier fast kaum sichtbar, weil sie für
die Teenager keine Rolle spielt, ausgeblendet werden
muss, um sich selbst zu suggerieren, man sei
woanders und gerade nicht hier. „Boredom“ steht
am Ende auf dem T-Shirt der Hauptfigur, die nach
dem Mopedunfall reglos, aber wohlauf in einem
Feld im Nirgendwo liegt. Schlussendlich wird sie
von dem Stadtindianer Waterloo gefunden, der mit
seiner Nähe zur FPÖ ideologisch zutiefst provinziell
denkt, sich auf Puls 4 als naturnaher Hundefreund
inszeniert und doch auf der Lederjacke das Abzeichen
der Santa Rosa Police trägt.
Auch Jessica Hausners Lovely Rita verrät nie
ganz, wo seine Protagonistin lebt: Zur Schule muss
man länger mit dem Bus fahren, in die Innenstadt
ein ganzes Stück mit der Bahn. Entscheidend ist die
provinzielle Stimmung, die Rita umgibt und sich am
Ende kathartisch entlädt. Die Provinz ist hier vielleicht
auch nur der Stadtrand Wiens oder ein angrenzendes
Dorf, wo die Mittelklasse sich gerade noch ein
Einfamilienhaus leisten kann, das Kind auch 2001
noch auf eine erzkatholische Schule schickt und im
eigenen Keller schießen übt, um im Schützenverein
besser dazustehen. Derweil macht die Frau das
Essen, und anschließend plärrt man notgedrungen
gemeinsam zum väterlichen Klavierspiel. Nichts verheißt
hier Modernität, die Tapeten zeigen entfernt
verblichene Muster der 1970er-Jahre, die Türgriffe
sind altertümlich geschwungen, der Putz ist grau
und scharfkantig. Mit Musik und Alkoholpralinen
versuchen die jungen Menschen hier, sich das Leben
schön zu machen, und treffen am Ende doch auf eine
zu rigide, althergebrachte Engstirnigkeit, die vor
allem Mädchen ein enges Korsett umschnallt: Rita
ist einfach nicht brav genug, und sobald sie sexuell
aktiv wird, muss sie – ganz wie im Mittelalter – von
allen Seiten dafür bestraft werden. Der endgültige
Ausbruch führt in die Stadt, in ein Café und ein Hotel,
und am Ende doch zurück in das Einfamilienhaus,
wo die automatische Lichtschaltung eine bessere
Zukunft verspricht.
(Katalogtext, Alejandro Bachmann)