Megacities
Dokumentarfilm, AT 1998, Farbe, 90 min., OmeU
Diagonale 2020
Regie, Buch: Michael Glawogger
Kamera: Wolfgang Thaler
Schnitt: Andrea Wagner
Originalton: Ekkehart Baumung
Produzent:innen: Erich Lackner, Rolf Schmid
Produktion: Lotus-Film
Mit grenzenloser Neugier und Energie verflicht Glawoggers Film „12 Geschichten des Überlebens“ aus den größten Metropolen der Welt – Mumbai und Mexiko Stadt, Moskau und New York – eine überwältigende sinnliche Erfahrung kreierend: Megacities ist auch Megakino. Sasha Pirkers minimalistischer Kurzfilm präsentiert einen Kontrapunkt zu Glawoggers Maximalismus: ein Alltagsbild vor der Naturkatastrophe.
„And perhaps in abodes of poverty, where health,
learning, shelter and security are not birthrights,
the soul is not a birthright, either.“ Mit einem Zitat
aus William T. Vollmanns The Atlas beginnt Michael
Glawoggers Megacities. Vollmanns Buch verzahnt
53 Geschichten, die von den Weltreisen des Autors
inspiriert sind, und lässt die Trennlinie zwischen Fiktion
und Sachtext hinter sich; Glawoggers Film tut es
ihm gleich und ignoriert die Dogmen des orthodoxen
Dokumentarismus, um sich kopfüber und atemlos in
ein Zwischenreich zu stürzen, das mit diesem „and
perhaps“ des in vieler Hinsicht seelenverwandten
Schreibers aufgetan worden ist.
Diesen Möglichkeitsraum des „Und vielleicht ist
die Welt so zu erfahren“ (was nicht heißt, dass sie nicht
auch ganz anders zu erfahren ist) gestaltet Megacities
als sinnlich überwältigende Entdeckungsreise, berauschend
und bestürzend zugleich. Ein Mosaik aus „12
Geschichten vom Überleben“ – so der Untertitel –,
gefilmt und gefunden (spontan Entdecktes dabei
auch für die Kamera wiederge- und -erfunden) in vier
der größten Metropolen der Welt: Mexico City und
Mumbai, Moskau und New York.
Das dokumentarisch geprägte Kino aus Österreich
ist in den letzten Dekaden immer wieder in die
Welt hinausgegangen, Megacities ist dabei eine Art
Urtext geblieben, von dem aus Inspirationsstrahlen
in alle Richtungen explodieren (im Wirbelsturm seiner
Filmbilder sind auch die Leitmotive von späteren Glawogger-Hauptwerken wie Workingman’s Death oder
Whores’ Glory zu finden). Im rastlosen Streifzug durch
urbane Randzonen vermischen sich das Surreale und
das Alltägliche ganz selbstverständlich: nicht zur viel
zitierten abstrakten „Sinfonie der Großstadt“, sondern
zum ganz konkreten existenziellen Ballett. Um die
unfassbare Größe der Metropolen nachvollziehen
(und nachvollziehbar machen) zu können, musste er
quasi lernen, „auf das Kleine zu schauen“, hat Glawogger
einmal erklärt.
Über zwanzig Jahre nach seiner Uraufführung
besteht Megacities noch immer als unerschöpfliches
Füllhorn widerstreitender Ideen und Emotionen, das
bei jedem Wiedersehen neue Entdeckungen erlaubt
und gemäß den Intentionen des Schöpfers der Festlegung
auf entleerte Schlagwörter wie Globalisierung,
Armut oder Urbanität souverän entgangen ist. Von der
russischen Kranfahrerin zur mexikanischen Sexperformerin,
vom indischen Bioskop-Mann, der gefundene
Bollywood-Filmstücke zusammenflickt (das offensichtlichste
der vielen Alter Egos des Regisseurs),
zum New Yorker Zuhälter, der eine nicht vorhandene
„air pussy“ verkauft. Sie und Dutzende andere unglaubliche
Figuren (wie der „echte Superheld“ Superbarrio
Gómez) und Tätigkeiten bekommen ihre einzigartigen
Momente im pulsierenden Strom des urbanen
Lebens. Megacities ist auch schlicht Megakino: brodelnder
Beleg einer ungebremsten filmischen Neugier
auf die Welt in Zeiten ihrer Zähmung durch die „Mediengesellschaft“.
(Katalogtext, Christoph Huber)