Diagonale
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Festival des österreichischen Films
4.–9. April 2024, Graz

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Verschwinden / Izginjanje
Dokumentarfilm, AT/SI 2022, Farbe+SW, 99 min., OmeU
Diagonale 2022

Regie, Buch: Andrina Mračnikar
Kamera: Judith Benedikt
Schnitt: Gerhard Daurer
Originalton: Bertram Knappitsch, William E. Franck, Andreas Hamza
Produzent:innen: Jürgen Karasek, Danijel Hočevar
Produktion: Soleil Film
Koproduktion: Vertigo (SI)

 

In Südkärnten sprachen vor 1910 zirka neunzig Prozent aller Bewohner*innen Slowenisch, heute ist es durchschnittlich ein einstelliger Prozentsatz. Andrina Mračnikar formuliert in ihrem essayistischen Dokumentarfilm auf persönliche Weise eine hochpolitische Dringlichkeit: Was passiert, wenn einem die Muttersprache im Alltag genommen wird? Was muss die Politik tun, um dem Verschwinden einer Sprache, deren Schutz in der Verfassung festgeschrieben ist, entgegenzuwirken?

Laute Knalle durchschneiden die Frühlingsluft. Zu Ostern sind Böllergeräusche in Südkärnten eine vertraute Klangkulisse. Die slowenische Sprache ist es nicht – mehr. Warum er Böller schieße, fragt die zweisprachige Regisseurin Andrina Mračnikar einen jungen Mann in ihrem Heimatort Keutschach/Hodiše. Das sei Brauch bei ihnen, bekommt sie als Antwort. Slowenisch ist für seine Generation aber längst keine gehegte Gewohnheit mehr. Im südlichsten Teil von Österreich war das vor 1910 noch anders: Circa neunzig Prozent aller Bewohner*innen sprachen, größtenteils ausschließlich, Slowenisch, heute sind es in Keutschach/Hodiše noch etwa fünf Prozent. Dieser Schwund ist Ergebnis einer über hundert Jahre währenden Diskriminierung, gespeist aus verbissenem bis radikalem Nationalismus sowie schnöder Ignoranz in der deutschsprachigen Gesellschaft und Politik. Andrina Mračnikar formuliert in ihrem essayistischen Dokumentarfilm eine hochpolitische Dringlichkeit. In persönlichen Gesprächen mit Familienmitgliedern eröffnet sie ein Bild von Verfolgung, Deportation, gewaltsamen Angriffen, hinterhältigen Anfeindungen und bürokratischen Hürden. All diese traumatisierenden Erfahrungen führten für viele Kärntner Slowen*innen dazu, dass sie vor der eigenen Sprache resignierten: In der Familie vertraut, wurde Slowenisch außer Haus immer mehr zum Ballast. Dabei ist die Muttersprache generell vieles zugleich, Identität, Erinnerung, kollektive ebenso wie individuelle Geschichte. Was passiert, wenn einem diese Sprache im Alltag genommen wird? Wie muss und kann die Politik handeln, um dem Verschwinden einer Sprache, deren Schutz in der Verfassung festgeschrieben ist, entgegenzuwirken? Mračnikar nimmt nicht nur familiäre Bezüge als Basis für ihre filmische Befragung, sondern auch die offizielle Feierlaune in Kärnten anlässlich des einhundertjährigen Jubiläums der Volksabstimmung – des Volksentscheids aus dem Jahr 1920, in dem sich die Kärntner Bevölkerung mehrheitlich für einen Verbleib in der Republik Österreich und damit gegen Jugoslawien entschied. Die Verwunderung im Land ist groß, dass Kärntner Slowen*innen nicht in den Jubel einstimmen, sondern für die Umsetzung jener Rechte demonstrieren, die ihnen vor hundert Jahren und viele weitere Male in Folge zugesagt wurden, ohne je gänzlich umgesetzt zu werden. Damit in Zukunft nicht nur eine Sprache und die damit verbundene Kultur vor dem Verschwinden bewahrt wird, sondern diese vielmehr mit völliger Selbstverständlichkeit in der Kärntner Öffentlichkeit, auf den Straßen von Klagenfurt/Celovec ebenso wie in Keutschach/Hodiše zu hören ist. Ein Film als Plädoyer gegen die Resignation und für ein beherztes politisches Handeln.
(Katalogtext, ap)

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