Diagonale
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Festival des österreichischen Films
4.–9. April 2024, Graz

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Anomalie
Dokumentarfilm, AT 2018, Farbe+SW, 81 min., 14.3. dOV / 16.3. OmeU
Diagonale 2018

Regie: Richard Wilhelmer
Buch: Richard Wilhelmer, Daniel Haingartner
Kamera: Serafin Spitzer
Schnitt: Alexander Murygin
Weitere Credits: Sprecherin: Anja Stadlober Tongestaltung: Karim Weth Tonschnitt und Mischung: Alexander Koller Audio Postproduktion Leitung: Marco Zinz Tonstudio: The Grand Post Tonaufnahme Daniel Haingartner Tonaufnahme Studio: Christian Obermaier Farbkorrektur & Compositing: Matthias Halibrand Dramaturgische Betreuung: Ryan Jeffery Produktionsassistenz: Maria Rauch Kamera Kassel: Patrick Jasim Lektorat: Karoline Walter Untertitel: Laure Gaillard Egozentrisches Kamerasystem: Ben Maus, Richard Wilhelmer ProtagonistInnen: Fritz Joachim Rudert Gerhard Roth Elisabteh Loftus Allen Frances Arthur Bodin Adelheid Kastner Regina Hickl Matthias Seibt Joscha Bach
Produzent:innen: Richard Wilhelmer, Daniel Haingartner

 

Was bedeutet „normal“? Wer hat die Deutungshoheit, psychologische Messlinien zu definieren? „Wir müssen uns enthindern. Die ganze Diagnostiziererei ist eine Behinderung“, meint etwa Fritz Joachim Rudert, Initiator des „Lehrstuhls für Wahnsinn“ und Philosoph mit unfreiwilliger Psychiatrieerfahrung. Anomalie begleitet Rudert und seine Mitstreiter/innen und vollzieht dabei eine filmische Suchbewegung, die sich dem Zusammenhang zwischen Gesellschaftspolitik und psychiatrischer Diagnose widmet.

Unter „Anomalie“ versteht man allgemein eine Abweichung von der Norm. Doch was bedeutet „normal“, und wer hat die Deutungshoheit, psychologische Messlinien zu definieren? Fritz Joachim Rudert ist eine Erscheinung: Gehüllt in selbstbemalte Westen und mit allerhand Klimbim behängt, erzählt er von Stationen einer unfreiwilligen Psychiatriekarriere, die kontinuierlich abwärts führte. Einen „Lehrstuhl für Wahnsinn“ versuchte der promovierte Philosoph lange Zeit an die FU Berlin anzugliedern, um öffentliche Diskurse rund um den „Irrsinn“ kreativ aufzubrechen und nicht nur jener Seite zu überlassen, die Diagnosen stellt.
Anomalie ist nicht reines Porträt: Forscher/ innen wie Gerhard Roth, Elizabeth Loftus oder Allen Frances kommen im Wechsel zu Wort. Zumeist in strenge Kadrierungen gefasst, erörtern sie psychiatrische Entwicklungstrends und deren Zusammenhänge. Der Film versammelt Positionen aus der Experimentalpsychologie, aus den Neurowissenschaften oder zu ganzheitlichen Therapieansätzen. Zentraler Knotenpunkt, an dem die Fäden auseinander- und wieder zusammenlaufen, ist die Konstruktion der Diagnose.
Zwischen die Sequenzen schieben sich Bildmontagen, nicht weniger kontrastreich als das Gesagte: Oberflächen symmetrischer Architekturen, labyrinthische Gänge einer stationären Einrichtung und flächige Aufnahmen blubbernder Gewässer. Eine Stimme aus dem Off legt sich darüber und verweist mit fragmentierten Foucault’schen Denkfiguren auf Hospitalisierungs- und Machtdiskurse. Wie gegenläufig die Haltungen zu psychiatrischen Zwangsdiagnosen sind, spitzt der Film in einem absurd-skurrilen Moment zu: Eine Fachärztin sichtet Videomaterial von Rudert und erstellt spontan eine Ferndiagnose. Rudert wiederum tritt entschieden gegen Klassifizierungssysteme und katalogisierte Checklisten an: „Wir müssen uns enthindern. Die ganze Diagnostiziererei ist eine Behinderung.“ Dabei, so heißt es im Film, verbuchen er und seine Mitstreiter/innen mit ihrem Engagement bereits politische Erfolge.
Anomalie versucht nicht, die Komplexität des Themas auf der Leinwand aufzulösen. Vielmehr vollzieht Richard Wilhelmer eine filmische Suchbewegung ohne voyeuristischen Blick, die politische Zusammenhänge zwischen Gesellschaftspolitik und psychiatrischer Diagnose erkundet.
(Katalogtext, jk)

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