Diagonale
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Festival des österreichischen Films
4.–9. April 2024, Graz

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Appunti per un'Orestiade africana (Notizen zu einer afrikanischen Orestie)
Spielfilm, IT 1969, Farbe, 73 min., OmeU
Diagonale 2018

Regie, Buch: Pier Paolo Pasolini
Kamera: Giorgio Pelloni, Pier Paolo Pasolini
Musik: Gato Barbieri
Produktion: Idi Cinematografica Gian Vittorio Baldi

 

Die Diagonale’18 gedenkt des Vermächtnisses der Filmwissenschaftlerin Elisabeth Büttner in der Reihe „Unvergessen“ mit einem Screening und Buchpräsentationen. Eine dokumentarische, eine minoritäre, eine experimentelle Perspektive auf Appunti per un’Orestiade africana (IT 1969) von Pasolini korrespondieren mit drei posthum erschienenen Büchern, an denen Elisabeth Büttner (1961–2016) teilhatte. Ihre Wege des Denkens und Arbeitens, die Haltungen und Vorschläge werden aufgegriffen, weitergetragen und verändert.

Eine dokumentarische, eine minoritäre, eine experimentelle Perspektive auf einen Film von Pasolini korrespondieren mit drei posthum erschienenen Büchern, an denen Elisabeth Büttner (1961 – 2016) teil hat.

Appunti per un’Orestiade africana (1969) wird von Pasolini mit einem kleinen Team vornehmlich in Tansania und Uganda gedreht, weitere Teile an der Universität in Rom sowie in einem Studio. Eingeschnitten ist Wochenschaumaterial des Biafrakriegs. Afrika ist am selben Wendepunkt seiner Geschichte angelangt wie Argos zur Zeit Orests: am Übergang von einer anarchischen Zivilisation zur Demokratie.
Wesentliches Moment für Pasolinis Übertragung des Mythos auf die afrikanische Realität ist die von Aischylos thematisierte Ablösung des anarchischen Matriarchats durch die Rationalität des Patriarchats. Aus den Erinnyen, den Furien der Rache, werden unter dem Schutz der Athene, der Göttin der Weisheit, die Eumeniden, besänftigte Göttinnen des Eingedenkens, mit dem Schuld sühnbar ist. Diesen Vorgang der Ablösung des Archaischen durch die Moderne, des Irrationalen durch die Rationalität, des Stammeswesens durch die Demokratie sieht Pasolini im Erwachen Afrikas zu seiner Entkolonisierung gespiegelt. Zustimmend und ablehnend kommentieren afrikanische Studenten an der römischen Universität Pasolinis Vorhaben.

01
Das Dokumentarische impliziert als Modus des Sichtbarmachens die Form der Überschreitung, indem es bisher nicht sichtbare Verhältnisse (Zusammenhänge) ausweist. Pasolini will – so erklärt er zu Beginn – weder einen Dokumentarnoch einen Spielfilm drehen, sondern die Möglichkeit einer Versuchsanordnung ausloten. Leitmotivisch dient dazu die Frage, ob die mythische Erzählung der Orestie, dieser antike Urstoff des ersten menschlichen Gerichthaltens (als Folge des Urkriegs um Troja), in das Afrika der 1960er-Jahre versetzt werden kann.
Eine Schlüsselszene dieses Vorhabens ist die Verwandlung der Erinnyen in Eumeniden, also die zähmende Integration der archaischen Rachegöttinnen in das neue System menschlicher Rechtsprechung. Im Film findet Pasolini dafür Bilder, die – aus seiner Sicht – von „einer alten, magischen Welt“ zeugen. Die Darstellung der Wiederholung von Ritualen und Bräuchen an einst heiligen Orten wird zur visuellen Demonstration dieser Zähmung.
Allerdings handelt es sich hier um ein Projekt im Konjunktiv. Der Film Appunti per un’Orestiade africana ist somit ein Metafilm, der die geplanten Schritte der ästhetischen Umsetzung bespricht – doch nicht ohne zugleich die dazu notwendigen Bilder der Dreharbeiten zur Verfügung zu stellen. Szenen des Alltags und der Sitten in verschiedenen afrikanischen Ländern 1969 werden auf diese Weise festgehalten, die Aufnahmen sind Fragmente historischer Wirklichkeit, die von der Fiktionalisierung des auferlegten Mythos gleichsam in ihrer Einsicht versetzt, gewendet werden.

02
Was tritt ans Licht, wenn die Kamera ihr eigenes Scheitern aufzeichnet? Was kommt nach der Frage: „Warum macht Pasolini weiter?“ Hinter dem Scheitern das zwiespältige Fortbestehen von dessen Gründen. Appunti, das kann auch „Vorhalt“ bedeuten.
Appuntare qn di qc: Pasolini filmt und macht „Afrika“ – „non è una nazione, è un continente“, wirft ein Student aus Äthiopien ein – nicht nur zur Projektionsfläche seiner persönlichen Kapitalismuskritik und der daran gekoppelten Interpretation einer Orestie der Dekolonisierung. Er verlangt zusätzlich, in Zukunft und auch in Europa befreit zu werden durch eine proklamiert „afrikanische“ Synthese von „alt“ und „neu“, „traditionell“ und „modern“, „formale“ Blaupause menschlicher „Demokratie“ und nationaler Gerechtigkeit. Die Ausbeutung des Kontinents mittels alter, neuer, traditioneller, moderner kolonialer Exotik findet hier kein Ende.
Non vede la collusione“: Im Notieren der Unmöglichkeit einer Synthese zwischen Zweitem und Drittem Kino manifestiert sich ein fortgesetzter Zusammenstoß der antagonistischen Standpunkte. Was der Wissensüberschuss der Bilder und der gefilmten Menschen dem Zweiten Kino vorhält, operiert in fundamentalen Brüchen der Kinosyntax. Die „materielle Präsenz“ der Tonbilder integriert Kritik, die gegen die appunti erhoben werden muss, aber schickt sich nicht an, das Projekt zu rehabilitieren.
Die Stimmen der afrikanischen Studierenden fordern die Dominanz des Voice-over heraus. Die Jazzversion der Tragödie stürzt das gesamte Dekor um – wie auch das Dritte Kino, die Revolution, keine Alternative zu 1 und 2 ist. Sie fordern radikales Erfinden, Ausdenken und komplette Neuordnung nach totaler Unordnung.
Solidarität scheitert, solange die Kamera nicht abgegeben, entwendet, gedreht, gegen sich selbst gerichtet wird. Solange die Totalität von Pasolinis Stimme und Blick nicht minoritär wird im eigenen Denken, der „freien indirekten Rede“ Raum lässt, die Orientierung im Takt verliert und den neuen Rhythmen zuhört.

03
Notizen – einer probiert Bilder aus für ein weiteres Vorhaben. „Die Bilder in Pasolinis Film sind Entwürfe“, hält Harun Farocki fest „und der Blick geht durch sie hindurch auf etwas anderes.“ Appunti als eine Reihe von Versuchen einer Übersetzungsarbeit unbekannter Sprachen lesen – der Orestie einerseits, Afrikas andererseits. Eine Untersuchung, eine Suche nach einzelnen Wörtern, ein Ausprobieren einzelner Ausdrücke im direkten Bezug auf die Bilder und ihre Praktiken.
Skizzen – Zeigen und Verweigern. Präzision anstreben und aufgeschlossen sein für das Unvollkommene. Vorschläge für Zusammenhänge machen; das Gezeigte provisorisch lassen, nicht durch Kommentare ausgleichen. Gleichzeitig verschiedene statt chronologisch eine Wirklichkeit zeigen. Dem Unfertigen und Beiläufigen Raum und Bilder geben.
Möglichkeitssinn – auch als Ausdruck nicht nachlassender Selbstkritik. „Kein Ding, kein Ich, keine Form, kein Grundsatz sind sicher, alles ist in einer unsichtbaren, aber niemals ruhenden Wandlung begriffen, im Unfesten liegt mehr von der Zukunft als im Festen, und die Gegenwart ist nichts als eine Hypothese, über die man noch nicht hinausgekommen ist“, schreibt Musil.
Brecht gebrauchen, ohne ihn zu kritisieren, sei Verrat, warnt Heiner Müller. In diesem Sinn werden wir Elisabeths Wege des Denkens und Arbeitens, die Haltungen und Vorschläge weitertragen und benutzen. Das heißt sie verändern. Erster Ausdruck davon sind die drei posthum erschienenen Bücher.
(Katalogtext, Christian Dewald, Viktoria Metschl, Vrääth Öhner, Lena Stölzl)

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