Diagonale
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Festival des österreichischen Films
4.–9. April 2024, Graz

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Vollgas
Spielfilm, AT/DE 2001, Farbe, 93 min., dOF
Diagonale 2022

Regie: Sabine Derflinger
Buch: Sabine Derflinger, Maria Scheibelhofer
Darsteller:innen: Henriette Heinze, Gregor Bloeb, Harald Windisch, Carmen Gratl, Simon Schwarz
Kamera: Bernhard Pötscher
Schnitt: Karina Ressler
Musik: Hannes Konecny
Szenenbild: Nikolai Ritter
Kostüm: Monika Buttinger
Produzent:innen: Michael Seeber, Heinz Stussak
Produktion: Prisma Film- und Fernsehproduktion

 

Urlaub, Entspannung, Enthemmung. Wodka-Shots, Tschick und One-Night-Stands. In Derflingers Spielfilm Vollgas läuft die Après-Ski-Maschine noch im gut geölten, vorpandemischen Hochbetrieb. Der Kurzdokumentarfilm Hände zum Himmel zeigt das touristische Tirol dagegen von seiner spirituellen Seite: Skisport- und Schlagerlegende Hansi Hinterseer lädt zur entspannten Bergmesse auf den Kitzbüheler Hahnenkamm. Sinnenthemmt hier, sinnsuchend da. Rausch als Massenphänomen, Tourismus ist keine Kinderjause.

Urlaub, Entspannung, Enthemmung. Wodka-Shots, Tschick und One-Night-Stands. In Sabine Derflingers Vollgas läuft die Après-Ski-Maschine noch im gut geölten vorpandemischen Hochbetrieb. Tag für Tag, Nacht für Nacht fließt der Alkohol in rauen Mengen, wird der Rausch als rot-weiß-rotes Gütesiegel ehrlicher Gastfreundschaft zelebriert. Die Gäste lieben es. Beim ausgelassenen Feiern wird der graue Alltag zu Hause vergessen gemacht, werden die beschämenden Oberflächlich- wie Beziehungslosigkeiten in liquiden, volumenprozentigen Gemeinheiten ertränkt.
Kellnerin Evi ist eine der besten Maschinistinnen im Steuerzentrum des Tiroler Wintersportorts: immer in Partylaune, trinkfest und kein Kind von Traurigkeit. Typisch für Derflinger ist ihre Protagonistin eine Kämpferinnennatur, stellt sich Chefs wie aufdringlichen Urlaubern selbstbewusst entgegen. Evi nimmt sich, was sie braucht und will, Schlafmangel und ungesunder Lebensstil können ihr nichts anhaben. Selbst die Betreuung der Tochter scheint zunächst leicht von der Hand zu gehen. Doch mit jedem Tag, jedem Shot, jeder unverbindlichen Körperlichkeit wird es für Evi schwieriger, die gegengleichen Lebensmodelle und Bedürfnisse in Balance zu halten. Und auch ihre Clique (unter anderen ein blutjunger Simon Schwarz sowie ausgerechnet Gregor Bloéb als schlagersingender Partyanimateur) ist nur Stütze, solange das Tempo stimmt. Zunehmend kippt der Rausch in überforderung, und Evis auf Limit ausgerichtetes Leben gerät aus den Fugen.
Ohne die Glücksversprechen eines solchen Lebens auszusparen gelingt Derflinger mit Vollgas eine filmische Blaupause österreichischer Rauschmentalität und damit zusammenhängender touristischer Geschäftstüchtigkeit. In einem Businesszweig, der nur ein Gas – Vollgas – kennt und der den Schein der unbedingten Leichtigkeit voll Inbrunst zelebriert, wird der Arbeitsalltag zum österreichischen survival of the fittest. Der reale Ischgl-Slogan „Relax. If you can …“ ist eben Lockruf und Drohung zugleich. Zwei Seiten einer Medaille.
Anderer Film, gleicher Schauplatz. Ein Perspektivenwechsel. Nicht die Touristiker*innen und Saisonnier*en stehen im Zentrum des Kurzdokumentarfilms Hände zum Himmel, sondern die Gäste, die im sommerlichen Tirol zunächst eine zu Derflingers Film konträre Betriebstemperatur vorfinden: Unweit vom radikaleskapistischen wintersaisonalen Partytaumel lädt Skisport- und Schlagerlegende Hansi Hinterseer zur entspannten Bergmesse auf den Kitzbüheler Hahnenkamm. Ulrike Putzer und Matthias van Baaren sind mit ihrer Kamera dabei, wenn der enthusiasmierte Fan-Tross auf den idyllischen Gipfel pilgert, um geeint der Stimme seines Idols zu lauschen. Oben wehen Hansi- und Österreichflaggen vor sattblauem, wolkenlosem Himmel. Die Atmosphäre ist friedlich und drogenarm berauscht. Ohne Zuhilfenahme illegaler Substanzen und Alkoholika wird in inniger geistiger Umarmung gebetet, gefeiert. Man freut sich, Teil einer wenig jugendlichen Bewegung zu sein. Und wie es bei Massenphänomenen immer der Fall ist, ist der Zustand faszinierend und unheimlich zugleich. Hände zum Himmel ist ein wahres Kleinod des österreichischen Dokumentarfilms. Beobachtend, empathisch, nicht wertend und doch mit merklicher Neugier für Ambivalenzen befragt der Film Legendenbildung in Rot-Weiß-Rot. Auch spiritueller Tourismus ist keine Kinderjause.
(Sebastian Höglinger)

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