Diagonale
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Kurz davor ist es passiert
Spielfilm, AT 2006, Farbe, 72 min., dOF
Diagonale 2019

Regie, Buch: Anja Salomonowitz
Darsteller:innen: Rainer Halbauer, Otto Pikal, Anna Sparer, Leopold Sobotka, Gertrud Tauchhammer
Kamera: Jo Molitoris
Schnitt: Fédéric Fichefet, Gregor Wille
Originalton: Eric Spitzer
Musik: Florian Richling, David Salomonowitz
Produktion: AMOUR FOU Vienna

 

Ein Film über Frauenhandel und den Alltag illegalisierter Migrantinnen: die Frauen, um die es geht, treten dabei nicht vor die Kamera. Stellvertretend berichten ein Zöllner, eine Hausfrau, ein Bordellkellner, eine Diplomatin und ein Taxifahrer von enttäuschten Hoffnungen, falschen Versprechungen und Ausbeutung. Dokumentarisches Material und Inszenierung werden verschränkt, Erzählkonvention, Authentizitätsstrategien und (Geschlechter-) Verhältnisse dadurch hinterfragt.

Ein Zöllner, eine Hausfrau, ein Bordellkellner, eine Diplomatin und ein Taxifahrer berichten, während sie ihrer alltäglichen Arbeit nachgehen, von enttäuschten Hoffnungen, falschen Versprechungen, Zwangsprostitution und Ausbeutung. Offensichtlich haben sie die geschilderten Ereignisse nicht selbst erlebt, die Situation ist inszeniert – doch das Erzählte ist geschehen: Die einstudierten, monoton vorgetragenen Leidensgeschichten sind aus Gesprächsprotokollen mit vom Frauenhandel betroffenen Frauen montiert.
Man könnte meinen, dass im Bereich des Dokumentarischen Lebenswirklichkeiten von Frauen relativ umstandslos abzubilden wären. In Kurz davor ist es passiert, einem Film über internationalen Frauenhandel und den Alltag illegalisierter Migrantinnen, sind die Frauen, um die es geht, jedoch gar nicht zu sehen. Die Filmemacherin Anja Salomonowitz macht sich durchaus Umstände und kreiert – jenseits von Abbildrealismus und Authentizitätsstrategien – ein komplexes Verfahren, um patriarchale Machtstrukturen freizulegen. Aus den realen Erzählungen betroffener Frauen, die sie über Jahre hinweg in Zusammenarbeit mit einer Beratungsstelle in unzähligen Gesprächen zusammengetragen hat, konstruiert sie Texte, die in performativen Auftritten von Stellvertreter/innen vorgetragen werden, die durch ihre Lebens- oder Arbeitsräume einen Bezug zum Erzählten haben. Zum Beispiel: Ein Mann, der von Beruf Zöllner ist, spielt einen Zöllner, der Aussagen verkaufter Frauen rezitiert und so seine Stimme den Tatsachenberichten von Opfern des Trafficking leiht, in das er selbst qua Funktion verstrickt sein könnte. Die Schauplätze – Grenze, Straße, Bordell, Konsulat – werden wie Tatorte inszeniert. Im gesamten Film gibt es jedoch kein einziges evidenzheischendes Bild vom Frauenhandel. Die Frauen als Akteurinnen ihrer eigenen Geschichten treten nicht vor die Kamera, ihre Lebensbedingungen kommen nur indirekt zur Sprache. Dafür gibt es gute Gründe: Die Unsichtbarkeit der illegalisierten Frauen wird so sichtbar, ihre Leidensgeschichten erscheinen nicht schicksalhaft, sondern werden als Folge struktureller Gewalt und gesellschaftlicher Verfasstheit erkennbar, der strukturelle Hintergrund des Frauenhandels tritt sozusagen in den Vordergrund.
Diese Strategien der Verschiebung, der Irritation und der Abstraktion können als Ausdruck einer Skepsis gegenüber gängigen Mustern von (dokumentarischer) Repräsentation, als Möglichkeit der Neuperspektivierung von Darstellungsmodi und als produktive Verkomplizierung der Kategorie „Frauenbilder“ verstanden werden. Anders gesagt: Der durch die Verschränkung von dokumentarischem Material und expliziter Inszenierung produzierte Verfremdungseffekt hinterfragt erzählerische Konventionen, dokumentarische Strategien und gesellschaftliche (Geschlechter-)Verhältnisse gleichermaßen. Was dabei auf dem Spiel steht, wäre zu besprechen.
(Birgit Kohler)

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